02 - Hinter goldenen Gittern - Ich wurde im Harem geboren
inmitten seiner Ehefrauen. Ich werde diesen Anblick nie vergessen. Es tat weh, ihn so zu sehen.
Er, der immer so viel Kraft ausstrahlte, musste gestützt werden.
Papa David sah verwirrt aus, als wüsste er nicht, wo er sich befand. Dann flüsterte er Mutter etwas ins Ohr, woraufhin sie sich aus der Mitte der Frauen löste. Inzwischen war es im Saal unruhig geworden, die fremden Gottesdienstbesucher unterhielten sich über den Vorfall, kleinere Kinder riefen dazwischen. Meine Mutter stellte das Stehpult wieder auf. Dann hob sie beide Hände und begann mit unnatürlich lauter Stimme das Vaterunser zu beten.
Schon nach ihren ersten Worten kehrte Ruhe ein, dann murmelte die ganze Gemeinde die Worte des Gebets. Es war ein unglaublicher Augenblick. Alle Menschen beteten, während Vater von schätzungsweise einem Dutzend anwesender Frauen aus dem Gemeinschaftshaus geleitet wurde.
Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Von all seinen Frauen hatte Papa David meine Mutter ausgewählt, die Versammlung zu Ende zu bringen.
Gleichzeitig war ich jedoch auch verwirrt, denn er hatte Mutter die Leitung der Farm weggenommen, weil sie sich nicht durchsetzen konnte, als es um Jems Bräutigam ging. Doch in diesem Moment traute er ihr eine beinahe noch größere Autorität zu.
Vater blieb fast ein Jahr lang verschwunden. Wir wussten zwar alle, dass er sich anfangs in seinen Räumen aufhielt, aber
zu Gesicht bekam ihn niemand von uns. Außer drei Frauen: Mama Patty, Mama Felicitas und meine Mutter. Sie wechselte sich mit den beiden anderen Ältesten in der Pflege des Kranken ab, schlief sogar in seinem Haus. Wenn ich sie sah, machte sie ein ernstes, verschlossenes Gesicht. Fragte ich, was mit meinem Vater geschehen sei, erwiderte sie, dass er bald wieder gesund werde.
Da sie allen anderen das Gleiche sagte, gab es nur ein Thema im Harem: Woran leidet Papa David? Immerzu erschienen fremde Männer mit großen Taschen, zumeist Weiße. Da Weiße sonst nie den Harem betraten (höchstens durch einen Seiteneingang von der Straße aus), konnte es sich nur um Ärzte handeln. Dass es so viele waren, ließ bei den aufgeregten queens nur einen Schluss zu: Die Lage ist ernst!
Ich hatte begonnen, meinen Vater mit den kritischen Augen eines heranwachsenden Mädchens zu sehen. Seine plötzliche Verwundbarkeit ließ meine aufkommende Distanz zu ihm schwinden. Mir war klar, er war unser
„König“. Ging es ihm schlecht, hatten wir allen Grund, uns Sorgen zu machen.
Das Hühnerhaus
Viel hatte ich im Harem nicht zu tun, jedenfalls verglichen mit dem Leben auf der Farm, wo ich für alles Mögliche zuständig gewesen war. Hier durfte ich gelegentlich beim Kochen helfen, den Hof fegen, auf die Kleinen aufpassen, leider nur selten in der Schule mithelfen und das Gemeinschaftshaus in Ordnung halten. Ich versuchte mich überall nützlich zu machen. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, an der falschen Stelle zu stehen. Ich gehörte nicht mehr in den Harem. Also zog ich von einem kleinen Hof in den nächsten und besah mir alles ganz genau.
Bei einem dieser Spaziergänge fiel mir eine Frau auf, die mir irgendwie bekannt vorkam. Ich starrte sie wohl ziemlich ungeniert an, doch dann fiel es mir ein. Es war Idu, die Vater etwa zehn Jahre zuvor aus dem Harem geworfen hatte, weil sie nicht auf ihren Fernsehapparat verzichten wollte! Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie kam sie hierher, wieso hatte Vater sie wieder aufgenommen? Auf Mama Idu zuzugehen und sie zu fragen, traute ich mich nicht. Also wandte ich mich an Mama Ada, die mir als Erste über den Weg lief.
„Das Herz von Papa David hat viele Zimmer“, antwortete meine Patentante.
Damit konnte ich jedoch überhaupt nichts anfangen. Mama Bisi war da schon gesprächiger, sie berichtete, dass Idu etwa zwei Jahre zuvor Vater um Gnade angefleht und für ihr Verhalten um Vergebung gebeten hatte. Das war etwa zu jener Zeit gewesen, als ich gerade von Lagos aus nach Jeba zurückgekehrt war.
Deshalb war sie mir damals nicht begegnet.
Jems trauriges Schicksal hatte mir Vaters Strenge und Unnachgiebigkeit deutlich vor Augen geführt. Umso mehr verwirrte mich seine Milde Idu gegenüber. Die Sache mit dem Fernsehapparat hatte ich schon als kleines Kind als ungerecht empfunden. Sein Einlenken und Mama Adas Satz mit den vielen Zimmern in Vaters Herz schienen nun aber zu beweisen, dass er Unrecht wieder gutmachen konnte.
Mama Idu hatte im Harem ebenso wie ich wenige Freundinnen. Während ich eines
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