02 - Hinter goldenen Gittern - Ich wurde im Harem geboren
niemand das Malheur entdeckte. Meist schützte ich Kopfschmerzen oder Übelkeit vor, bis ich dann unbemerkt von anderen aus dem Bett huschen und meine Sachen zum Waschen zu Mutter schmuggeln konnte. Dieses Versteckspiel verstärkte die Rolle, die ich schon bei meinem Aufenthalt während Mutters Deutschlandreise eingenommen hatte: Ich war eine Außenseiterin, hatte kaum Spielgefährten und war oft ziemlich trübsinnig. In Wirklichkeit litt ich unter entsetzlichem Heimweh nach
Jeba, fragte mich, ob es Corn gut gehe, und hoffte, dass Jo sich mit Felix verstehen möge.
Von den wenigen Freundinnen meiner Kindheit war praktisch niemand mehr im Harem. Vater hatte sie alle bei anderen Familien untergebracht, sie verheiratet.
Dadurch stärkte er die Bande zwischen den über das ganze Land verstreuten Familien. Wenn eine meiner Schwestern von ihm in unserem Gemeinschaftshaus getraut wurde, betonte er stets den Zusammenhalt aller, den großen gemeinsamen Gedanken, nach dem wir alle lebten. Und dem wir uns zu fügen hatten. Verstohlen musterte ich bei diesen Feiern die angereisten Gäste, warf den jungen Männern vorsichtig unter meinem Schleier neugierige Blicke zu. Ob einer von ihnen derjenige sein würde, mit dem ich in wohl nicht mehr allzu ferner Zukunft vor Vater stehen würde, um aus seinem Mund den Segensspruch für mein Leben an der Seite des Fremden zu hören? Immer wieder ertappte ich mich dabei, dass ich die jungen Männer mit Jo verglich, der mich mit so viel Respekt und Verständnis behandelt hatte.
Jem, die Ungehorsame, wurde nicht in Lagos verheiratet. Als ich im Harem eintraf, hatte Vater sie bereits nach Warri gebracht, einer Industriestadt im Süden Nigerias. Nur Mama Bisi hatte bei der Hochzeit dabei sein dürfen.
„Jem ist ein Dickkopf“, sagte Mama Bisi, „aber ich hätte ihr wirklich mehr Glück gegönnt, als ausgerechnet einem solchen Mann zur Frau gegeben zu werden. Und wie nutzlos ihre Flucht damals gewesen ist! Ihr jetziger Mann ist nicht jünger als Papa Sunday. Ich glaube, euer Vater wollte sie für ihren Hochmut bestrafen, damit es allen anderen eine Lehre ist. Und wo sie wohnt!
Nicht so schön, wie sie es bei Papa Sunday gehabt hätte. Warri ist eine hässliche Industriestadt und Jems Haus ist sehr ärmlich.“ Als dritte Frau ihres Mannes gebar sie ihm 19-jährig ein Kind.
Eines Tages traf ich Mama Bisi im Garten des Harems. Sie schnitt gerade die wilden Triebe eines jungen Limonenbaums zurück. Ich erwartete, dass sie wie immer mit der Pflanze
sprach, ihr erzählte, dass es jetzt zwar etwas weh tue, der Baum danach aber umso kräftiger wachse. Manchmal sang sie auch ein Lied. Doch diesmal verrichtete sie ihre Arbeit stumm. Eine Weile sah ich ihr zu, doch sie beachtete mich nicht.
„Geht es dir nicht gut, Mama Bisi? Bist du krank?“, fragte ich schließlich. Sie machte weiter, als hätte sie meine Frage nicht gehört.
Als sie sich zu mir umdrehte, musterte sie mich, als sähe sie mich an diesem Tag zum ersten Mal. „Ich weiß, meine Kleine, dass du nicht glücklich bist. Aber sieh diesen jungen Baum an. Er steckt voller Kraft. Trotzdem muss ich ihm die jungen Zweige abschneiden. Er versteht nicht, dass ich es gut mit ihm meine.
Ich weiß das und tue es trotzdem. Auch wenn wir Beine, Hände und Kopf haben, so sind wir doch wie der kleine Limonenbaum. Immerzu wird uns etwas abgeschnitten. Wir werden größer, die Wunden heilen und an anderer Stelle wachsen wir weiter. Es schmerzt, manchmal sogar das ganze Leben lang. Der arme Baum kann sich nicht wehren. Er nimmt sein Schicksal an, ohne dass wir ihn vor Schmerz schreien hören.“
Meine Lieblingsmama drehte sich zu ihrem Zögling um, fuhr mit den Fingerspitzen über seine zarte Rinde und begann ein Lied zu singen. Ein Kinderlied, das ich öfter aus ihrem Mund gehört hatte; ich mochte es, war mit ihm aufgewachsen.
„Ein König hatte einen Clown, auf den er sehr stolz war. Doch war er mal wütend, so nahm er seine Krone und warf damit nach dem Clown. Der fing die Krone auf und sprach: „Ja, ich bin ein Clown, aber ich habe eine Krone, drum nenn' ich mich König Clown.“ Er tanzte und lachte; der König ohne Krone sich nichts dabei dachte. Ein König hatte einen Clown; er war stolz auf seinen Clown.“
Als ich ein kleines Kind gewesen war, hatte Mama Bisi das Liedchen mit ein paar witzigen Bewegungen ihrer runden Hüften begleitet. Das hatte früher komisch ausgesehen und mich zum Lachen gebracht; doch diesmal klang das Lied
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