02 - Hinter goldenen Gittern - Ich wurde im Harem geboren
traurig.
Jetzt drehte sie sich zu mir um. In ihren Augen standen Tränen. Meine Lieblingsmama, zu der ich als Kind immer aufgeblickt hatte, wirkte plötzlich ganz klein. Ich überragte sie schon um einen Kopf.
„Möge Gott dich schützen, meine Kleine“, sagte sie eindringlich und nahm mich in ihre weichen Arme, „was auch immer dein Vater von dir verlangt, widersetze dich ihm nicht. Er weiß, was für dich richtig ist. Versprich mir das, denn ich könnte es nicht ertragen, noch eine Tochter zu verlieren.“
Das war Mama Bisis Art, mir zu sagen, dass ihre Tochter Jem gestorben war.
Weit entfernt von uns, in ihrem Zuhause.
In meinem Land werden die Verstorbenen meist am Tag ihres Todes oder kurz darauf bestattet, weil es heiß und feucht gleichzeitig ist. Aber fast immer wird der Toten anschließend in einem großen Fest gedacht. Das war bei Jem nicht so.
Mama Bisi konnte sich von ihrer ältesten Tochter nicht verabschieden; Jems Tod war ihr von Papa David mitgeteilt worden. Denn Vater hatte meiner Schwester ihren Ungehorsam nicht verziehen; er verweigerte ihr eine schöne Totenfeier.
Ich sah Jem vor mir, wie sie da unten in dem Brunnenschacht saß, in den sie selbst hineingeklettert war. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und blickte mich aus großen Augen traurig an. Damals hatte ich noch nicht gewusst, dass sie an diesem Tag in ihr eigenes Grab hinabgestiegen war.
Die Ehe mit dem Mann aus der Nähe von Warri hatte ihr den Tod gebracht. Im Delta des Niger wird viel Öl gefördert. Dieses Öl fließt in überirdischen Leitungen aus dem Regenwald zu den Tankern vor der Küste, die es zu den Raffinerien fortbringen. Die Pipelines führen oft durch die Siedlungen der Menschen, die trotz der Bodenschätze in großer Armut leben. Nicht selten bohren sie daher Löcher in die Rohre, um das Rohöl zu verkaufen. Das ist so alltäglich, dass oftmals der gleichzeitige Umgang mit offenem Feuer nicht vermieden wird. Es kam zu einer Explosion. Meine Schwester, ihr Baby auf dem Rücken, befand sich direkt in der Nähe der Explo-sionsstelle. Jem hatte so gern Rapunzel gespielt und sich befreien lassen. Im wirklichen Leben gab es für sie keine Rettung.
Die Familienfeste am Sonntag, die mir früher wichtig gewesen waren, weil ich das schöne Gefühl genoss, mich unter so vielen Menschen geborgen zu fühlen, nahm ich nur noch unkonzentriert wahr. Leider durfte ich auch nicht mehr im Chor mitsingen, da ich schon seit Ewigkeiten bei den Probestunden gefehlt hatte. Meine Gedanken waren woanders - bei meiner ungewissen Zukunft, an die mich die fremden Männer im Gemeinschaftshaus stets erinnerten.
Vielleicht hatte Mutter ja Recht, dass die Liebe erst später kommt. Was aber, wenn nicht? Wäre es nicht besser, wenn sich zwei Menschen kannten, bevor sie sich ewige Treue versprachen? Worin lag der Sinn, dass so hart gestraft und die Selbstbestimmung einer Tochter vollkommen unterdrückt wurde, damit ein Vater nicht sein Ansehen verlor? War Papa David nicht ein wenig wie der König, der seine Krone nach dem Clown warf?
Es war noch nicht die Zeit und ich hatte nicht das Recht, diese Fragen laut auszusprechen. Ich litt darunter, dass ich sie überhaupt nur dachte, warf mir selbst .vor, eitel an mein eigenes Glück zu denken anstatt an das der Familie.
Heute aber weiß ich, dass die Familie nur glücklich sein kann, wenn es jeder Einzelne sein darf. Jene, die die Family OfThe Black Jesus heute führen, sehen das anders. Es sind Männer wie Vater, die sich inmitten ihrer Frauen fühlen wie Könige, die stolz auf ihren Clown sind.
Als Papa David einige Monate später das Gemeinschaftshaus betrat, fiel mir auf, dass sein Gesicht nicht wie sonst strahlte. Es wirkte starr und glänzte feucht, als ob er stark schwitzte. Als er kurz darauf zur Familie sprach, verlor er immer wieder den Faden und musste von vorn beginnen. Mutter, die direkt vor mir saß, wechselte mit Mama Bisi mehrere
besorgte Blicke. Ich sah, wie Mutter ihren Körper anspannte; sie schien aufstehen zu wollen. Schließlich setzte Papa David erneut an und brach wieder ab, griff Halt suchend ans Stehpult. Dann fiel er einfach um. Dabei riss er das hölzerne Gestell mit sich.
In der ersten Schrecksekunde bewegte sich niemand, dann sprang meine Mutter als Erste auf, Mama Bisi, die nicht so flink war, tat es ihr nach. Schließlich erhoben sich alle seine Frauen, umringten ihn, beugten sich zu ihm herunter und halfen ihm wieder auf die Beine. Geschwächt stand er
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