02_In einem anderen Buch
»Mal mir ein Schaf.«
»Mach's lieber gleich«, sagte eine vertraute Stimme von der
anderen Seite. »Wenn er einmal angefangen hat, hört er nicht
mehr damit auf.«
Es war Miss Havisham. Gehorsam malte ich das beste Schaf,
das ich konnte, und gab es dem Jungen, der hochzufrieden
damit davonging.
»Willkommen bei der Jurisfiktion«, sagte Miss Havisham, die
jetzt wieder ihr altes Brautkleid trug, aber von ihrem Unfall auf
der Booktastic immer noch etwas hinkte. »Ich werde dich nicht
gleich allen vorstellen, aber unsere Gastgeberin solltest du doch
kennen lernen.«
Sie führte mich zu einer konservativ gekleideten Dame, die
dabei war, der Dienerschaft Anweisungen bei der Verteilung
der Platten zu geben. »Mrs Dashwood, das ist Thursday Next,
meine neue Auszubildende.«
Ich schüttelte Mrs Dashwoods vorsichtig hingehaltene Hand,
und sie lächelte höflich. »Willkommen in Norland Park, Miss
Next. Sie haben Glück, dass Sie Miss Havisham als Lehrerin
haben, sie nimmt selten Schüler. Aber sagen Sie – ich bin in der
neueren Literatur nicht so bewandert – aus welchem Buch
kommen Sie?«
»Ich bin nicht aus einem Buch, Mrs Dashwood.« Unsere
Gastgeberin sah uns einen Augenblick verblüfft an, ergriff dann
aber energisch meinen Arm, entschuldigte sich bei Miss Havis-ham und führte mich zu einem der Teetische.
»Kann ich Ihnen ein Crumbobbilous-Sandwich anbieten?«
fragte sie aufgeregt. »Oder vielleicht etwas Tee?«
»Nein, danke.«
»Lassen Sie mich direkt zur Sache kommen, Miss Next!«
»Es scheint Ihnen sehr am Herzen zu liegen …«
Sie blickte ängstlich nach links und rechts und senkte die
Stimme. »Sagen Sie, denken die Leute da draußen, mein Mann
und ich wären schreckliche Menschen, weil wir Elinor, Marianne und ihre Mutter um Henry Dashwoods Erbe gebracht haben?«
Sie sah mich so flehentlich an, dass ich am liebsten gelacht
hätte. »Na, ja«, sagte ich zögernd.
»Ach, ich wusste es!« stöhnte Mrs Dashwood und presste in
einer dramatischen Geste den Handrücken an ihre Stirn. »Tausendmal habe ich John gesagt, er sollte es nicht tun … Ich
nehme an, wir werden da draußen verflucht? Man verbrennt
unsere Bilder? Gibt es Demonstrationen?«
»Nein, nein«, sagte ich, um sie zu trösten. »Rein erzähltechnisch wäre die Handlung etwas dürftig ohne das, was Sie getan
haben.«
Mrs Dashwood zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und
trocknete ihre Augen, die allerdings, soweit ich sehen konnte,
ohnehin keine Tränen aufwiesen.
»Sie haben ja so Recht, Miss Next«, sagte sie. »Vielen Dank
für Ihre liebenswürdigen Worte. Aber wenn Sie jemand
schlecht von mir reden hören, sagen Sie bitte, dass mein Ehemann daran schuld war – ich habe ihn immer daran zu hindern
versucht.«
»Ja, gewiss doch!« sagte ich und entschuldigte mich. »Wir
nennen es das Nebenfiguren-Syndrom«, erklärte Miss Havisham, als ich wieder bei ihr war. »Es tritt häufiger auf, besonders
wenn eine eher unwichtige Figur etwas Wesentliches zur Handlung beitragen darf. Seit der Katastrophe mit Verwirrung und
Geselligkeit haben sie und ihr Mann uns diesen Raum zur
Verfügung gestellt, als Gegenleistung überwacht die Jurisfiktion
alle Jane-Austen-Romane besonders scharf. Es gibt noch ein
weiteres Büro im Keller von Elsinore Castle. Da residiert Mr
Falstaff.« Sie zeigte auf einen übergewichtigen Mann mit rotem
Gesicht, der sich mit einem anderen Agenten angeregt unterhielt und gerade in brüllendes Gelächter ausbrach.
»WO IST HAVISHAM?« bellte eine donnernde Stimme. Die
Türen flogen auf, und eine ziemlich zerrupfte Herzkönigin
hopste herein. Erschrocken verstummten die Gäste und
Schweigen senkte sich über den Saal.
Lediglich Miss Havisham sagte in unnötig provozierendem
Tonfall: »Na, die Schnäppchenjägerei bekommt auch nicht
jedem, nicht wahr?«
»Wenn Sie sich noch einmal in meine Affären einmischen«,
sagte die Herzkönigin, »kann ich für meine Handlungen nicht
garantieren!« Sie hatte ein blaues Auge und zwei ihrer Finger
waren geschient. Der Schlussverkauf der Booktastic hatte ihr
bös zugesetzt.
»Nehmen Sie das alles nicht ein bisschen zu ernst, Euer Majestät?« sagte Miss Havisham, stets bemüht, die höfische Contenance zu bewahren. »Es waren doch nur ein paar Farquitts!«
»Es war die Kassettenausgabe!« fauchte die Herzkönigin. Die
anderen Gäste, die längst gemerkt hatten, dass es sich nur um
eine weitere Runde in einer alten Fehde handelte,
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