02 - Keiner werfe den ersten Stein
waren sie als Reklamefotos gedacht gewesen. Vielleicht hatte sie die Bestätigung gebraucht, daß sie eine hübsche Frau war, oder die Bestätigung, daß sie wirklich existierte.
Lynley nahm das oberste Tagebuch. Der Einband war rissig, mehrere Blätter waren zusammengeklebt, viele waren von der Feuchtigkeit gewellt. Langsam blätterte er das Buch durch, bis er zum letzten Eintrag kam, der vom 25. März 1973 stammte. Die Schrift war die gleiche wie auf dem Abschiedsbrief, große, runde Buchstaben, eine kindliche Schrift; im Gegensatz zu dem Brief jedoch war dieser Text voller Schreibfehler.
Jezt steht es feßt. Morgen abend geh ich. Ich bin so froh, daß es entlich entschieden ist. Wir haben heut abend Stunden lang geredet und alles genau besprochen. Und wie dann entgültig alles ausgemacht war wollt ich mit ihm schlafen, aber er hat gesagt, nein, Han, wir haben nicht genug Zeit. Im ersten Moment hab ich gedacht er ist villeicht sauer, weil er meine Hand richtig weggestosen hat aber dann hat er gelächelt so richtig lieb und hat gesagt Schatz dafür haben wir noch viel viel Zeit wenn wir erst in London sind. London! London!! Morgen um dieße Zeit. Er hat gesagt das seine Wohnung fertig ist und das er alles arrangschiert hat. Ich weis überhaupt nich wie ich den langen Tag morgen aushalten soll. Ich mus dauernd an ihn denken. Mein Liebster! Mein Liebster!
Lynley blickte auf, sah zu dem kleinen Dachfenster hinauf, in dessen schwachem Licht Staubkörnchen schwebten. Er hatte nicht damit gerechnet, daß die Worte einer Frau, die so lang schon tot war, ihn auch nur im geringsten bewegen könnten; einer Frau, die sich grell geschminkt und grell gekleidet hatte und die bei dem Gedanken an ein neues Leben in einer Stadt, die für sie ein Ort der Verheißung und der Hoffnung war, in einen Taumel freudiger Erregung geraten war. Aber ihre Worte hatten ihn tatsächlich bewegt. Sie schien ihm wie eine nach Wasser dürstende Pflanze, die zum ersten Mal die Pflege und Aufmerksamkeit erhielt, die sie brauchte, um gedeihen zu können. Selbst in ihren unbeholfenen Worten von Sinnlichkeit und Sexualität zeigte sie eine beinahe kindliche Unschuld. Hannah Darrow, das unerfahrene, naive Mädchen vom Lande, hatte sich letztendlich selbst zum perfekten Opfer gemacht.
Er blätterte langsam in dem Tagebuch zurück und überflog die einzelnen Einträge auf der Suche nach jener Stelle, wo sie zum ersten Mal von ihrer Bekanntschaft mit dem unbekannten Mann berichtete. Unter dem Eintrag vom 15. Januar 1973 fand er, was er suchte, und während er las, wurde er sich zunehmend sicherer, daß seine Ahnungen ihn nicht getrogen hatten.
So einen schönen Tag wie heut in Norwich hab ich fast noch nie erlebt. Trotzdem ich vorher so einen Riesenkrach mit John hatte. Mama und ich sind einkaufen gegangen weil sie sagte daß würde mich aufmuntern. Vorher sind wir bei Tante Pammy vorbeigegangen und haben sie auch mitgenommen. Sie hatte natürlich schon wieder gesüffelt und hat fürchterlich nach Gin gestunken. Beim Mittagessen haben wir das Plakat von einer Teatergruppe gesehen und Pammy hat gesagt, sie wäre uns was schuldig drum hat sie uns in das Theaterstück eingeladen. Aber ich glaub sie hats hauptsächlich getan weil sie ihren Rausch ausschlafen wollte. Sie hat geschnarcht das es kaum zum aushalten war und am Ende hat der Mann hinter ihr mit dem Fus an ihren Sitz getreten. Ich war vorher noch nie im Teater. Das muß mann sich mal vorstellen. Das Stück hat von einer Herzogin gehandelt, die erwürkt wird und am Schlus ersticht einer den anderen. Und ein Mann hat immer gesagt er wär ein Wolf. - Richtig spannend. Und was für schöne Koßtüme die anhatten. Sowas hab ich noch nie gesehen. Lange Kleider und glitzernde Kronen auf den Köpfen. Und die Männer hatten Strumpfhosen an und vorn so komische kleine Beutel. Als es aus war hat die Herzogin Blumen gekriegt und die Leute sind aufgestanden und haben geklatscht. Ich hab im Programm gelesen das sie im ganzen Land rumfahren und ihre Stücke aufführen. Sowas würd ich auch gern machen. Das wär ein Leben. In PGreen ists zum Verücktwerden. Manchmal würd ich am liebsten laut schreien. John will dauernd mit mir schlafen aber ich mag einfach nicht mehr. Seit dem Baby ist bei mir was nicht in Ordnung aber er glaubts mir nich.
Es folgte eine Woche, in der sie verdrossen und niedergeschlagen ihr tägliches Leben im Dorf schilderte: Wäsche waschen, das Baby versorgen, tägliche Telefongespräche
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