02 Nightfall - Rueckkehr des Engels
Blättern und blauroten Trauben auf dem kleinen Esstisch. Ein muffiger Geruch nach alten Dingen stieg aus zwei abgegriffenen Kartons, die auf dem Tisch standen. Auf den Seiten der Kartons stand mit dunklem Filzstift WALLACE, SHANNON. FALL NR. 5123441. Fotos waren wie Tarotkarten auf der dunklen Oberfläche ausgebreitet, die allesamt Aufnahmen eines Tatorts darstellten.
Dante ergriff die Rückenlehne des Stuhls am Tisch. Die Ringe an seinen Fingern schlugen gegen das Holz. Er beugte sich vor, um die Fotos genauer zu mustern.
Auf der Erde unter den winterlich kahlen Ästen eines Baums lag eine Frau. Sie war halb zusammengekauert, blickte aber mit toten Augen in den Himmel. Sie sah mit ihrem roten Haar und dem herzförmigen Gesicht Heather unglaublich ähnlich – selbst im Tod noch hinreißend anzusehen.
War es eine Schwester? Heather hatte einmal erwähnt, ihre Schwester sei Leadsängerin von WDM gewesen, ehe sich die Band aufgelöst hatte, und diese Schwester habe auch unter Migräne gelitten.
Plötzlich verstand er. Er hielt sich am Stuhl fest, um nicht ins Schwanken zu kommen. Das war nicht ihre Schwester. Ihre Mutter . Getötet und weggeworfen. Genau wie seine.
Hinter seinen Augen begann es zu schmerzen. Das bohrende Gefühl breitete sich rasant in seinem Kopf aus, und Stimmen fingen zu flüstern an.
Du siehst ihr so unglaublich ähnlich.
Dante-Engel?
Psst, Prinzessin. Still, p’tite . Schlaf weiter.
Dante schloss die Augen und legte die Finger an die Schläfen. Er versuchte, nicht auf das Flüstern zu hören. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Konzentrier dich auf Heather. Konzentrier dich. Die Stimmen wurden leiser, bis er schließlich nur noch das regelmäßige Schlagen seines Herzens hören konnte.
Dante öffnete die Augen und musterte wieder die Fotos und den Bericht, der ebenfalls vor ihm auf dem Esstisch ausgebreitet war. Dachte sie daran, den Mord an ihrer Mutter neu aufzurollen oder wollte sie sich nur noch einmal damit beschäftigen? Heather suchte stets nach der Wahrheit, bei allem, was sie tat. Ganz gleich, wie sehr es auch wehtun mochte und wem sie auf die Zehen trat.
In Washington war sie deshalb fast ums Leben gekommen, und er war sich absolut sicher, dass sie auch jetzt nicht sicher war.
Er dachte daran, wie sie ausgesehen hatte, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Es war in der Klinik gewesen. Ihr Gesicht hatte bleich geleuchtet, ihre Augen waren umschattet gewesen, und in ihren blauen Tiefen hatte sich tiefe Trauer gezeigt. Sie hatte verletzlich und zerbrechlich gewirkt – und allein.
Dante war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob er es schaffen würde, wieder wegzugehen. Würde er es über sich bringen, sich ein weiteres Mal von ihr zu verabschieden? Gleichzeitig wusste er nicht, ob er heilen wollte. Er wusste nicht, ob er es verdiente zu heilen. Aber eines war klar: Er würde nicht wieder verschwinden, ehe er sichergestellt hatte, dass es ihr gutging.
Er richtete sich auf und ließ die Collage aus Tatortaufnahmen auf dem Tisch liegen, um über den Flur zum Schlafzimmer
zu gehen. Heathers Aroma umgab ihn warm und vertraut, und er nahm es gierig in sich auf.
Ein fragendes Miau grüßte ihn. Am Fußende des Bettes lag zusammengerollt eine rotbraune Katze und musterte ihn gelassen mit ihren goldenen Augen.
»Hi«, sagte Dante und hielt ihr die Hand hin. Die Katze schnüffelte interessiert an seinen Fingern und rieb sich schnurrend an seiner Handkante. Er streichelte den schmalen, weichen Kopf. Die Katze gähnte, und man sah ihre Zunge, die sich wohlig ringelte. »Ich hoffe, du sollst hier nicht Wache halten, Minou, denn schlafen wäre dann das ganz Falsche, Kleine.«
Er ließ den Finger über das ordentlich gemachte Bett wandern. Ruhelosigkeit ergriff ihn, als er daran dachte, wie Heather in seinem Schoß gelegen und sich eng an ihn geschmiegt hatte, während sie gemeinsam vor und zurück geschaukelt waren. Er erinnerte sich daran, wie sich ihre Haut angefühlt hatte – warm, weich und fest. Er erinnerte sich auch an den Honiggeschmack ihrer Lippen, an ihr Blut – und an die lilienweiße Stille, die sie umgeben hatte wie zwei Hände eine Flamme.
Es ist so still, wenn ich mit dir zusammen bin. Der Lärm hält inne.
Ich helfe dir, dass er für immer aufhört.
Der Schmerz in ihm begann zu toben. Weißes Licht zuckte vor seinen Augen.
Nein. Konzentrier dich. Bleib hier. Im Jetzt. Beschütze sie.
Dante zwang sich, dem Bett den Rücken zuzudrehen und ging über den
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