02 - Schatten-Götter
ansonsten undurchdringlichen Gesicht des Priesters. »Eine angemessene und würdige Entscheidung, Majestät.«
Beschwingt lachte Tauric und stieg die Stufen in das feuchte, dämmrige Sanktuarium hinab. Seine Gefährten hatten die zerbrochenen und verrotteten Holzstämme und alle Trümmer, die sie heben konnten, hinausgeschafft. Selbst in dem schwachen Mondlicht konnte Tauric Details der prachtvollen Gemälde erkennen, die einst diese Wände geschmückt hatten. An der Rückwand des Sanktuariums, die gleichzeitig die Rückwand des Tempels bildete, befanden sich zwei quadratische Sockel, die etwa einen Meter auseinander standen. Sie waren einst das Fundament für einen halbkreisförmigen Altar gewesen. Dazwischen, kaum höher als Taurics Brust, ragte der moosbesetzte, rußige Stumpf eines Baumes heraus. Man hatte im Lauf der Jahre mehrere Feuer auf oder neben ihm entzündet, doch als Tauric genauer hinsah, bemerkte er Unregelmäßigkeiten, in denen er abgehackte Sprösslinge erkannte.
Dieser Baum ist immer noch nicht tot, dachte er. Seine Wurzeln müssen wahrlich tief reichen. »Wir warten und sehen von hier oben zu, Majestät«, sagte Aygil und nahm sein Banner von der Wand, an die er es gelehnt hatte.
Bevor Tauric reagieren konnte, verbeugten sich seine Gefährten und marschierten hintereinander aus dem Heiligtum. Auf dem Podest stellten sie sich um die unterirdische Kammer auf, und Tauric näherte sich den Überbleibseln des Baumes, ging in dem schlammigen Schmutz auf ein Knie und begann mit kräftiger Stimme aus seinen Notizen zu lesen.
Sofort befiel eine merkwürdige Trägheit seinen Verstand und etwas hing schwer an seinen Augenlidern, aber er konzentrierte sich nur auf die Pergamente in seiner Hand. Als er die erste Anrufung beendet hatte, schienen seine Sinne ein wenig benebelt, seine Sehkraft verschleiert und sein Gleichgewicht unsicher, als würde sich der Boden nach vorn neigen. Aber er wendete das Pergament, entschlossen, weiterzumachen, vor allem jetzt, da es in der Kammer eindeutig heller geworden war. Gerade als Tauric mit der zweiten Anrufung beginnen wollte, hörte er die Stimme des Priesters von oben.
»Du kannst aufhören, Junge. Komm da raus …«
Einer der Gefährten holte scharf Luft.
»Priester… seht doch!«
Tauric wollte sich umdrehen, als der Priester humpelnd forteilte, aber seine Gedanken waren in einem unsichtbaren Netz gefangen, das irgendwie aus den Worten auf dem Pergament und den Wörtern in seinem Mund gesponnen war. Aus den Flechten und der verbrannten Rinde des Baumstumpfes drang jetzt ein transzendentes Strahlen. Während er weitersprach, ertönte eine ärgerliche Stimme von oben: »Was machst du da? Hör sofort damit auf!«
»Aber wir sind doch hierher gekommen, Priester, um …«
»Wenn ihr ihn nicht aufhaltet, tretet zur Seite, denn ich werde es tun!«
»Habt Ihr den Verstand verloren, Priester?«
Durch das Netz aus Worten und unbekannten Bedeutungen drang Aygils entschlossene Stimme und dann das metallische Singen an Taurics Ohren, als der Bannerträger sein Schwert zückte.
»Tretet zurück!«
»Das werde ich allerdings, du Narr!« Dann hörte er die Schritte des Priesters, das energische Klopfen seines Stockes und seine Stimme: »Tretet vor und ergreift sie!«
Die Gefährten keuchten verblüfft. »Majestät«, rief Aygil, »wir wurden hintergangen. Was sollen wir tun?« Da dämmerte Tauric endlich die schreckliche Wahrheit. Er erkannte die Hinterlist des ehemaligen Waffenmeisters und seine eigene Rolle in seinem Plan, aber das alles erschien bedeutungslos neben dem Ritual, in das er gänzlich versunken war. Dennoch fand er in dem Wirbel der Worte und Silben und der Trägheit seiner Gliedmaßen die Kraft, Aygil zu antworten: »Weicht nicht, Gefährten!«
Im selben Augenblick hörte er ein Klatschen, als wäre jemand nach einem Sprung aus einer beachtlichen Höhe auf den Füßen gelandet, und dann das Klirren von Waffen. Schreie, hastige Schritte, ein schmerzhaftes Knurren, die Geräusche eines kurzen, verzweifelten Kampfes. Taurics Panik war jedoch nur ein einziger, schwarzer Faden in dem Gewebe des Mysteriums und der Macht, das ihn umhüllte. Er hörte den Kampf, vermochte jedoch nicht, sich zu bewegen. Dann ertönte der Ruf des Waffenmeisters.
»Es sind doch nur Kinder … Tötet oder fangt sie, aber überlasst mir ihren Anführer!«
»Sie kommen«, sagte Aygil. »Herik, kannst du noch stehen?«
Jemand keuchte und lachte trocken. »Aye, eine Weile, Aygil.
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