0234 - Macht und Mythos
des knöchernen Brustkorbs lagen frei. Die leeren Augenhöhlen erinnerten an düstere Löcher, und Sheila wurde erst allmählich bewusst, dass dies ihr Sohn sein sollte, der da als Skelett lag.
Ihre Gedanken wurden durch eine Berührung abrupt unterbrochen. Sie spürte sie rechts und links auf ihren beiden Schultern, schielte zu der einen Seite und sah die zwei Hände der Hexe Jane Collins.
Die Fingernägel glänzten dabei dunkel, als wären sie mit schwarzem Lack überpinselt worden. Wahrscheinlich traf dies auch zu; es war jedoch nur eine Randerscheinung, die Sheila wahrnahm.
»Gib acht, kleine Sheila!« hörte sie Janes Stimme. »Gib genau acht, was ich jetzt mache…«
Alles ging sehr schnell. Sheila wurde überrascht. Sie glaubte aber, die Fingerspitzen knistern zu hören, und im nächsten Augenblick lag nicht mehr das Skelett im Kinderbett, sondern der kleine Johnny.
Und er schlief.
Das war keine Täuschung. Sheila sah tatsächlich ihren kleinen Sohn. Die Augen hielt er geschlossen, sein Mund war leicht geöffnet, das Gesicht zeigte sich entspannt.
Aufatmen konnte Sheila allerdings nicht, obwohl sie eine gewisse Erleichterung spürte. In ihrem Kopf kreiselten die Gedanken und Vermutungen. Hatte sie sich das Skelett vorhin nur eingebildet, waren ihre Nerven schon so überstrapaziert, und existierte diese Jane Collins vielleicht auch nicht in Wirklichkeit?
Doch da waren die Hände, die rechts und links über ihre Wangen hinausragten und auch die an schwarze Perlen erinnernden dunklen Fingernägel. Nein, einen Traum hatte sie nicht erlebt, obwohl das sicherlich besser gewesen wäre.
»Siehst du ihn?«
Sheila fand nicht die Kraft, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Sie konnte nicht einmal nicken.
Jane Collins lachte leise. »Ich kann mir vorstellen, wie es in dir aussieht, aber ich wollte dir beweisen, wie hilflos du letzten Endes doch bist. Dein Sohn kann mir gehören, wenn ich es will. Hörst du? Er kann mir gehören, und bis jetzt habe ich dir nur etwas vorgehext, wie man so schön sagt.«
»Wie… wieso?«
»Stell dich nicht so dumm an. Dein Sohn lebt, das Skelett war nur für dich zu sehen. Ich habe es auf magische Weise entstehen lassen, denn man hat mir die Hexerei beigebracht. Wikka ist eine ausgezeichnete Lehrerin, ich war eine gute Schülerin. So konnte es nicht ausbleiben, dass ich schon sehr bald die magische Hexenkunst von ihr lernte. Ich sage dir das, damit du gewarnt bist und nicht daran denkst, auch nur irgendwelche Dummheiten zu versuchen. Hörst du?«
»Ich habe verstanden.«
Sheila war nach den Worten der ehemaligen Detektivin wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen. Sie fand sich mit der Lage ab und suchte fieberhaft nach einem Ausweg.
Wäre sie allein gewesen, so hätte sie vielleicht mehr Angst gehabt. Aber nur einige Schritte entfernt im Garten, da warteten die Freunde. Mochte Jane Collins noch so große magische Fähigkeiten besitzen, gegen die anderen kam sie nicht an. Zudem musste sie wissen, dass sich Jane nicht allein im Haus befand.
Was hatte sie vor?
Zunächst einmal verschwanden ihre Hände aus Sheilas Gesichtskreis, als Jane die Arme zurückzog.
Die Tür war noch immer nicht geschlossen, so dass ein breiter Streifen Licht weiterhin in das Zimmer fiel und Sheila etwas erkennen konnte.
»Dreh dich um!«
Darauf hatte die Frau des Reporters gewartet. Sie bewegte ihren Körper so, dass sie Jane Collins direkt ins Gesicht blicken konnte. Hatte sie bisher noch leise Zweifel an der Existenz der ehemaligen Detektivin gehabt, so wurde sie nun eines Besseren belehrt. Die Frau vor ihr war tatsächlich Jane Collins.
Hatte sie sich verändert?
In diesem Licht war es kaum zu erkennen. Sheila glaubte jedoch, dass Janes Gesicht andere Züge angenommen hatte. Es wirkte verbissener als früher, kälter, abgebrühter. Besonders fiel dies bei den Augen auf. Janes Blick zeigte eine gewisse Gnadenlosigkeit, und sie bewies damit, dass sie kein Erbarmen mehr kannte. Sie war völlig in Wikkas Hexenzirkel integriert.
Eine schlimme, grausame Sache. Sheila hatte nicht direkt miterlebt, wie das Verhängnis damals über Jane Collins hereingebrochen war, aber sie erinnerte sich noch deutlich an John Sinclairs Reaktionen.
Er war tagelang völlig down und fertig gewesen, und wenn man ihn auf Jane Collins ansprach, reagierte er nur barsch und abweisend, weil er über dieses Thema nichts mehr wissen wollte. Irgendwie hatte sich John sogar selbst die Schuld an der Verwandlung der
Weitere Kostenlose Bücher