0234 - Macht und Mythos
einfielen. In den Augen lag ein fiebriger Glanz. Die Nase stach spitz und weiß aus dem Gesicht hervor, und die blutleeren Lippen murmelten: »Es ist so kalt, mein Freund, so schrecklich kalt. Der Tod ist nicht mehr aufzuhalten. Er will mich, aber ich… Nein, ich kann es nicht mehr. Er ist stärker, seine Schatten, ich sehe sie. Ich kann sie genau erkennen, doch dahinter, hinter ihnen, da ist das Licht. Das helle, strahlende Licht der Unendlichkeit des guten Geistes. Ich werde in das Licht eingehen. Mein Geist wird sich zu denen gesellen, die auf mich warten. Zu Hesekiel, zu den großen Propheten und zu meinem Schöpfer…«
Plötzlich hob er die Arme, streckte sie weit aus, als wollte er das Licht fassen. Er holte noch einmal tief Luft, und ein verklärtes Lächeln lag plötzlich auf seinem Gesicht.
Es blieb auch noch da, als mich die starren Augen eines Toten anblickten. Der alte Mann, dessen Namen ich nicht einmal wusste, konnte nicht mehr sprechen. In meinen Armen war er gestorben.
Ich schämte mich meiner Tränen nicht. Neben der Leiche saß ich und weinte. Ich war so unendlich dankbar, hatte soviel durch seinen Mund erfahren, und er war mir wie ein guter Freund vorgekommen…
Das allerletzte Geheimnis des Kreuzes hatte er mir nicht mehr mitteilen können. Ein anderer war schneller gewesen.
Mühevoll erhob ich mich. Meine Glieder waren vom langen Sitzen steif geworden. Ich schaute auf mein Kreuz und streifte danach die Kette, an der es hing, über meinen Kopf. Das Kreuz hatte wieder seinen angestammten Platz gefunden. Nur war ich jetzt um einiges schlauer.
Der alte Mann, der mir die Geheimnisse erklärt hatte, war zusammengesackt. Er lehnte zwar noch am Felsen, doch sein Körper besaß keine Kraft mehr.
Ich, der Mensch aus der Zukunft, hatte einen Freund verloren, und ich konnte ihm nur noch einen Dienst erweisen, indem ich ihn begrub. Werkzeug besaß ich nicht.
Da fielen mir die zahlreichen Steine auf. Unter ihnen sollte der Tote seine letzte Ruhestätte finden.
Noch stand die Sonne hoch am Himmel, als ich mit der Arbeit begann. Es war nicht einfach, die schweren Steine zu schleppen, aber ich dachte daran, was mir die Worte des Mannes alles eröffnet hatten, und so machte ich weiter.
Schon bald war der Leib unter den Steinen verschwunden. Ich häufte noch eine Lage darauf und suchte anschließend nach Holz, um daraus ein Kreuz zu formen.
Leider fand ich nichts in der Nähe, sosehr ich mich auch bemühte. Der Weg führte mich dabei in höhere Regionen, so dass ich einen hohen Felsen erkletterte und von ihm einen prächtigen Blick über das Land besaß.
Deutlich war die Staubfahne zu erkennen, die zwischen dem Wald und mir in der Luft stand. Leider blieb sie nicht stehen, denn sie bewegte sich ausgerechnet in meine Richtung weiter.
Ich konnte mir denken, was vorgefallen war. Die vier Legionäre waren zurückgekehrt und hatten Bericht erstattet. Jetzt wollten sie mit Verstärkung kommen, um nachzuschauen, ob dieser seltsame Fremde auch gegen eine halbe Armee bestehen konnte.
Ein wenig seltsam war mir schon zumute, und ich überlegte, was ich unternehmen sollte. Am besten wäre natürlich die Pyramide gewesen, doch die war von Raum und Zeit geschluckt worden.
Was sollte ich tun? Mich verstecken? Wohl die einzige Chance, der Übermacht von Feinden zu entgehen. Dann konnte ich nur hoffen, dass mich irgendwann einmal die Pyramide wieder erreichte, um mich in meine normale Zeit zurückzubringen.
Die Soldaten mussten sehr scharf reiten, denn die Staubwolke bewegte sich ziemlich schnell. Ich war nur zu Fuß, hatte kein Pferd, und wenn ich noch länger wartete, schaffte ich es nie mehr, mich vor den anderen in Sicherheit zu bringen.
Mir war klar, dass die römischen Soldaten versuchen würden, den Felswirrwarr, in dem ich mich aufhielt, zu durchsuchen. Sie kannten die Gegend, wussten sicherlich sämtliche Verstecke, und für mich wurde es eng. Also weg.
Wie lange es dauerte, bis ich die Felsen hinter mir gelassen hatte, das konnte ich nicht sagen. Als ich es endlich schaffte und vor mir einen langgezogenen, sanft ansteigenden Hang sah, da war ich ziemlich erschöpft, ungemein durstig und staubbedeckt. Jede Faser meines Körpers schrie nach Wasser, aber hier gab es weit und breit nichts.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Hang hinaufzulaufen, wobei mir die Verfolger im Nacken saßen, denn ihre Stimmen und das Schreien waren lauter geworden.
Zum Glück gab es Mächte, die es nicht erlaubten,
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