024 - Lebendig begraben
ein Gerard Berman in Paris, der noch 1892 eine Schwarze Messe veranstaltete. Nach fünf Jahren Haft verschwand er aus Paris. Er hatte Frankreich verlassen, denn 1910 fand man im Nachlass eines gelynchten Wunderheilers aus Köln die Reste eines Tagebuches, in dem die Pariser Erlebnisse des Gerard Berman genau beschrieben waren. Der Name des Wunderheilers: Gerhard Bermann. Bermann hatte einen Sohn. Das wurde beim Begräbnis offenbar. Ein junger Mann von zwanzig Jahren erschien nämlich und trat die beachtliche Erbschaft an. Er blieb nicht in Köln, sondern siedelte nach Wien über, wo er ein Jura-Studium absolvierte.“
„Eine bewegte Familiengeschichte“, warf ich dazwischen, als er kurz innehielt. „Ich hoffe, Sie bringen Sie bei Gelegenheit für mich zu Papier.“
Vereinzeltes Lachen im Saal.
„In den dreißiger Jahren stöberte ich in München einen jungen Rechtsanwalt auf, an dem die Zeitungen kein gutes Haar ließen“, fuhr Geissler fort. „Er hatte sich vor Gericht wegen Verleumdung zu verantworten, wurde aber mangels Beweisen freigesprochen. Seinen Namen brauche ich wohl nicht erst zu nennen, oder? Bermann. Gerhard Bermann. Er musste München verlassen, und ich blieb ihm auf den Fersen. Wohin er ging, ging auch ich. Und ich beobachtete ihn, seit mehr als dreißig Jahren nun.“
Erstauntes Gemurmel. Geissler wollte mich seit mehr als dreißig Jahren kennen, und keiner hätte mich auf mehr als einundzwanzig geschätzt.
Ich grinste sarkastisch. „Es ist zu sehen, dass die Leute hier Ihnen noch nicht alles glauben. Sie müssen Ihre Märchen schon ein wenig glaubwürdiger gestalten.“
Er grinste ebenfalls. „Das wird gar nicht nötig sein. Bleiben wir bei diesem Gerhard Bermann aus München. Er war zurecht der Verleumdung angeklagt, auch wenn die Beweise nicht ausreichten. Er brachte mehrere ehrenwerte Personen um den guten Ruf. Aber das war eines seiner kleinsten Verbrechen. Wohin er auch kam auf seinem weiteren Weg, hat er nicht nur verleumdet, sondern auch gemordet.“
Er machte eine künstliche Pause, offenbar der Dramatik wegen. Als er weiter sprach, klang seine Stimme gepresst, dass ich fast selbst beeindruckt wurde.
„Jeder Mord, der in diesem Ort geschah, seit dieser Teufel hier ist“, dabei deutete er mit dem Finger wild in meine Richtung, „jeder dieser Morde geht auf sein Konto. Nicht ihr, ihr ehrenwerte Leute, sondern diese Bestie hat sie begangen.“
Totenstille herrschte nach diesen Worten.
„Er hat noch immer nicht erklärt“, stellte ich trocken fest, „wie er bereits dreißig Jahre hinter mir her sein kann, wo ich erst zwanzig bin.“
Das brachte ihn momentan aus der Fassung, und lenkte die Aufmerksamkeit der Zuhörer ab.
„Ja, das scheint mir eine recht wichtige Frage“, stimmte Halmann zu.
Geissler wand sich und sagte dann zähneknirschend: „Das ist der einzige schwache Punkt in meiner Anklage. Das einzige Rätsel. Ich bin sicher, wir werden es gemeinsam klären – wenn erst alle Beweise vorgebracht sind.“
„Der Meinung bin ich durchaus nicht“, fiel ich ihm ins Wort. „Wer immer Ihr mysteriöser Herr Bermann ist – aufwiegeln tun Sie die Leute gegen mich. Daher verlange ich, dass wir diesen Punkt klären.“
„Schon gut, Schorsch“, meinte Thomas. „Was sagt ihr?“ Er wandte sich an die Nächststehenden.
Sie hoben unsicher die Schultern.
„Warum macht ihr so verdammte Umstände mit diesem Scharlatan?“ rief Geissler aufgebracht. „Habt ihr sie mit den Kronachers gemacht, oder mit dem Schulmeister? Hier steht der Oberschurke vor euch und ihr räumt ihm Rechte ein, statt ihn auf einen Scheiterhaufen zu stellen, wie es die klugen Alten getan hätten vor ein paar hundert Jahren.“
„Wir leben in einer modernen, aufgeschlossenen Zeit, wo Hetzer wie Sie nicht allzu viel zu sagen haben.“
Ich merkte, dass Halmann und ein paar andere unsicher nickten. Wahrscheinlich begann ihnen die ganze Sache langsam über den Kopf zu wachsen. Geissler wusste unangenehm viel über sie. Sie mussten vorsichtig mit ihm sein. Darin lag die große Gefahr für mich. Selbst wenn sie mit mir sympathisierten, Geissler konnte sie jederzeit gefügig machen. Die Chance, dass sie schließlich taten, was er verlangte, egal, ob ich nun schuldig war oder nicht, und egal, ob es ihnen gefiel oder nicht, waren groß.
„Na gut“, sagte Geissler ruhig. „Ich kann euch beweisen, dass er ein Teufel ist. Dann mag es euch nicht mehr so wichtig erscheinen, ob er Gerhard Bermann ist oder
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