0244 - Der Seelen-Vampir
beschrieben. Dies hier war eine andere Bestie, eine Fledermaus, ein echter Vampir, der nicht daran dachte, auf dem Fleck hockenzubleiben, denn er hatte die großen Schwingen zusammengelegt und versuchte nun, seinen Körper durch das zerstörte Fenster zu drücken.
Virna Lancaster dachte an Flucht. Sie gestand sich ein, daß sie gegen dieses Monstrum im Kampf immer den kürzeren ziehen würde. Ihn zu besiegen, war einfach unmöglich, das schaffte sie nicht, so ein Monstrum würde keine Gnade kennen.
Was sollte sie tun?
Flüchten? Und was geschah dann mit Lilian, ihrer Tochter? Sie konnte sie auf keinen Fall allein lassen. Nicht wenn diese grausame Bestie im Zimmer hockte.
Während der rote Vampir weiterhin versuchte, seinen Körper durch die Lücke des Fensters zu zwängen, lief die Frau auf das Bett ihrer Tochter zu und hörte schon die Stimme.
»Der Meister!« kreischte Lilian. »Der Meister kommt! Jaaa… zu mir, nimm mich, ich warte auf dich, meine Seele wartet …«
»Nein, nein! Er wird dich nicht bekommen!« Virna brüllte die Worte. Sie warf sich auf das Bett, über ihre Tochter und wußte, daß nun Sekunden zählten.
Die Decke war dünn. Virna spürte unter ihren Händen die Gestalt der Tochter und die Matratze wurde eingedrückt. Mrs. Lancaster wollte ihre Tochter an sich reißen, das Kreuz rutschte dabei von der Decke und fiel neben dem Bett zu Boden.
Darauf achtete die Frau nicht. Sie riß den mager gewordenen Körper ihrer Tochter in die Höhe, und sie schaffte es, ihn sich über die Schulter zu wuchten.
Lilian wehrte sich. Mit beiden Händen, die sie zu Fäusten geballt hatte, schlug sie gegen den Leib der Mutter. Sie strampelte auch mit den Beinen, doch die Frau entwickelte in diesen Sekunden Riesenkräfte. Virna wuchs praktisch über sich selbst hinaus, lief zur Tür und hatte sie noch nicht erreicht, als sie ruckartig aufgestoßen wurde.
Eine unheimliche Gestalt stand auf der Schwelle.
Tarrasco, der Seelensauger!
***
Die vier Särge standen in einem speziell abgesicherten Raum. Der Kapitän hatte Order gegeben, daß diesen Raum niemand betreten durfte, und wie Romanescu die Mannschaft einschätzte, hielt sie sich auch daran, denn noch war er der Herr auf dem Schiff.
Zudem wußten nur wenige, daß sich in den Särgen vier Leichen befanden. Wirklich vier Leichen?
Nein, eine war nicht tot, der Biß hatte sie zu einer Untoten gemacht, zu einer Vampirin…
Und sie war erwacht.
Es war eine junge Frau. Harriet hieß sie, und sie spürte beim Erwachen, daß etwas anderes von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie kam sich vor, als hätte sie tief und fest geschlafen, aber ebenso stark geträumt und wäre jetzt wieder an die Oberfläche gespült worden.
Im Dunkeln blieb sie liegen.
Fugenlos schloß der Sargdeckel. Harriet wußte nicht, daß sie in einer Totenkiste lag. Und wenn, hätte sie sich auch deshalb nicht erschreckt, denn zu den wenigen Dingen, die Vampire lieben, gehören nun mal Särge. Es sind ihre Lieblingsaufenthaltsorte, aber wenn die Zeit reif war, dann sahen sie auch zu, daß sie die Särge oder den Sarg wieder verlassen konnten.
Noch etwas spürte die Untote.
Einen seltsamen Drang, der in ihr hochstieg und den sie zuvor nie erlebt hatte.
Die Gier nach Blut!
Sie besaß zwar nicht mehr die menschliche Vorstellungskraft, dennoch dachte sie an den kostbaren Lebenssaft, der ihr ein Weiterleben garantieren würde.
Sie wollte es, sie brauchte es!
Blut! Nur Blut…
Menschen besaßen es. An sie mußte sie herankommen. Harriet streckte ihre Arme, hörte das leise Knacken der Gelenke, blieb noch einen Moment ruhig liegen und lauschte dem rhythmischen Stampfen, das ebenfalls an ihre Ohren drang.
Sie konnte das Geräusch nicht einordnen, da blitzte auch nichts in ihrer Erinnerung auf, und so gelang es ihr nicht, festzustellen, daß sie auf einem Schiff lag.
Auf einem Schiff und gefangen in einem Sarg, den sie allerdings verlassen wollte.
Nachdem sie die Arme gestreckt hatte, winkelte sie beide an und reckte sie hoch.
Da spürte sie den Widerstand!
Es war das Innere des Sargdeckels, und ihn konnte sie nicht öffnen. Trotzdem gab sie nicht auf, setzte viel Kraft ein, stemmte sich gegen den Deckel, aber die Verschlüsse hielten.
Die Vampirin wurde unruhig.
Sie stieß ein fauchendes Geräusch aus, abermals hob sie die Arme, und ihre Fingernägel kratzten über die Innenseite des Deckels.
Nein, das schaffte sie nicht.
Aber sie wollte hier raus. Sie brauchte Blut, mußte es haben,
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