025 - Die toten Augen von London
las:
›Man wird Sie morgen verhaften. Larry Holt hat den Haftbefehl. Kommen Sie morgen früh halb sieben nach Todds Heim, Lissom Lane, und fragen Sie nach Lew. Er wird Ihnen sagen, wie Sie entwischen können. Passen Sie auf, daß man Ihnen nicht folgt. Erzählen Sie niemandem, wohin Sie gehen.‹
Der Brief war nicht unterzeichnet. Larry wollte ihn schon zurückgeben, aber dann fragte er:
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich den Brief behalte?« »Nein, behalten Sie ihn ruhig. Nur, Mr. Holt«, fragte Fred unruhig, »wollen Sie mir nicht sagen, ob da irgend etwas Wahres dran ist, daß ich gefaßt werden soll?«
»Soviel mir bekannt ist, sind Sie nicht auf der Liste, und ganz sicher habe ich keinen Haftbefehl gegen Sie.«
14
Coram Street 280, wo Mrs. Fanny Weldon wohnte, war eine Pension. Das ganze Haus bestand aus möblierten Zimmern. Mrs. Weldon war eine geschätzte Mieterin, sie bezahlte gut und machte keine Umstände. Die Wirtin tat alles mögliche, um ihr gefällig zu sein.
Nach der unruhigen Nacht, die Fanny hinter sich hatte, schlief sie den ganzen Vormittag. Um drei Uhr nachmittags stand sie auf und beschäftigte sich mit diesem und jenem. Da war ein Hut zu bürsten, eine Bluse zu glätten, etwas auszubessern.
»Sie sind heute nacht spät nach Haus gekommen, Mrs. Weldon«, sagte die Wirtin, als sie eigenhändig den Tee brachte.
»Genaugenommen bin ich heute nacht überhaupt nicht ins Bett gekommen. Wie spät ist es jetzt?«
»Sechs Uhr. Ich dachte, Sie schliefen noch, und da Sie nicht klingelten, wollte ich Sie nicht stören.« Fanny gähnte.
»Heute abend gehe ich aber früh zu Bett. Gibt's was Neues?« »Nicht viel, liebes Kind. Im Zimmer nebenan wohnt jetzt ein junger Mann, ein Herr aus Manchester, sehr ruhig. Mrs. Hooper hat sich wieder einmal über das Essen beklagt. ..« Und sie begann den täglichen Pensionsklatsch herzusagen, »Schicken Sie mir irgend was Kaltes nach oben«, bat Fanny. »Ich will heute wirklich früh schlafen gehen. Morgen habe ich eine wichtige Verabredung.«
Sie dachte mit gemischten Gefühlen daran, daß sie Larry Holt aufsuchen mußte.
Um halb acht ging sie zu Bett. Sie war todmüde und schlief sofort ein. Aber sie hatte schreckliche Träume von drohenden Ungeheuern, von hohen Gebäuden, auf deren äußerstem Dachrand sie saß, von Minnern, die sie mit langen, blitzenden Messern verfolgten. Ruhelos warf sie sich im Bett hin und her. Sie träumte, sie hätte einen Mord begangen, sie hätte Gordon Stuart ermordet. Nie vorher hatte sie diesen Namen gehört, bis Inspektor Holt ihn erwähnte. Sie stellte sich Gordon Stuart als einen weichlichen jungen Mann vor.
Und jetzt war der Tag der Hinrichtung gekommen, träumte sie; man schleppte sie aus ihrer Zelle, die Hände auf dem Rücken gefesselt, ein weißgekleideter Priester schritt an ihrer Seite. Sie kamen in einen kahlen Raum, der Henker erschien, er hatte das höhnische Gesicht des blinden Jake. Sie fühlte den Strick um ihren Hals, versuchte zu schreien, er zog sich enger und enger zusammen, würgte, erstickte sie. Sie wachte jäh auf. Zwei Hände lagen um ihren Hals. Im Widerschein einer Straßenlaterne blickte sie entsetzt in die ausdruckslosen Augen des blinden Jake. Es war kein Traum - es war Wirklichkeit. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber seine großen Hände drückten sie nieder, und ein Knie preßte sich auf ihren Körper. In zischendem Flüsterton sprach er auf sie ein:
»Du hast mich verraten! Hast mich verraten, du Biest! Ich weiß alles. Ein guter Freund bei Todd hat mir alles erzählt. Jetzt bist du geliefert, Kleine!«
Sie rang nach Atem, sie konnte keinen Schrei, kein Wort hervorbringen, sie spürte das Blut in den Schläfen hämmern, immer stärker preßten die Hände ihren Hals. Plötzlich flammte das Licht auf.
Der ›junge Mann aus Manchester‹ der das Zimmer nebenan gemietet und geduldig die ganze Nacht auf die leisen Schritte des blinden Jake gewartet hatte, weil er wußte, daß er kommen würde, um sich an der Verräterin zu rächen - Larry Holt also stand in der Tür und richtete seinen langläufigen Browning auf den Würger.
»Hände hoch, Jake!«
Mit dem Fauchen eines gestellten Raubtiers drehte sich Jake herum.
Einen Augenblick standen sie sich regungslos gegenüber, dann streckte Jake langsam seine Hände in die Höhe.
»Kommen Sie hierher - keine Dummheiten!« befahl Larry. Geschickt jedem Hindernis ausweichend kam der große, schwere Mann mit hochgehaltenen Händen langsam auf ihn zu.
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