0254 - Am Hafenkai regiert Gewalt
Waterfront von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen und zu befragen. Um vier Uhr waren wir in der 72. Straße.
Lieutenant Cressborn war nach dem Hauptquartier gefahren. Wir hatten ihn beide in Verdacht, dass er einer Begegnung mit dem mächtigen Mann aus dem Wege ging. Erst auf anhaltendes Klingeln öffnete ein verschlafener Butler und erklärte uns indigniert, Mr. Niles sei zur Zeit verreist, werde jedoch am nächsten Vormittag mit Sicherheit in seinem Office anzutreffen sein. Wir telefonierten mit der Polizeistation Richmond und erfuhren, dass der hohe Herr sich auch dort nicht befand. Es hieß also, sich in Geduld fassen.
Der Morgen begann mit einer ärgerlichen Enttäuschung. Die Stadtpolizei hatte den festgenommenen Pförtner von Pier 18 laufen lassen müssen. Ein Anwalt war aufgetaucht und hatte Haftbeschwerde eingelegt. Der Portier berief sich auf seine Instruktion, niemand durchzulassen und konnte glaubwürdig machen, er habe sich durch uns bedroht gefühlt und nicht an unsere amtliche Eigenschaft geglaubt.
Bei der Überprüfung der in letzter Zeit ausgestellten Passierschiene für Pier 18 wurde keiner gefunden, der am Vorabend benutzt worden sein konnte, aber der Pförtner bestand darauf, der Insasse des Buick habe ihm einen solchen vorgezeigt. Da die Formulare nicht unter Verschluss gehalten wurden, bestand die Möglichkeit, dass man eines davon gestohlen habe.
Um zehn Uhr begannen wir mit der Vernehmung der verschiedenen Leute, die wir uns aufgeschrieben hatten. Da waren zuerst die beiden Ärzte, die seinerzeit das Sachverständigengutachten ausgestellt hatten, auf Grund dessen die Rodríguez gegen Kaution vorläufig freigelassen wurde.
Es waren beides gute und anständige Ärzte, aber sie krankten an einer Seuche, die man mit dem Schwund der roten Blutkörperchen vergleichen kann. Was für den menschlichen Körper die roten Blutkörperchen sind, das sind für den Arzt die Patienten, und wenn diese schwinden, so bedeutet das den Tod seiner Praxis. Ein jeder von ihnen hatte für das Gutachten, das Mrs. Rodríguez für haftunfähig erklärte, den runden Betrag von 3000 Dollar erhalten.
Da Mrs. Rodríguez wirklich einen bedauernswerten Eindruck machte und heftig auf die Tränendrüsen drückte, hatten sie sich beide kein Gewissen daraus gemacht. Die Patientin hatte den Betrag in bar hinterlegt, sodass nicht festzustellen war, von wem dieser stammte. Natürlich erklärten mir die beiden Doktoren, das nicht so offen und unverblümt, wie ich es hier niederschreibe, sondern verklausuliert und mit so vielen Vorbehalten, dass es unmöglich sein würde, sie zur Verantwortung zu ziehen.
Um zwölf Uhr erschienen Phil und ich, unangemeldet natürlich, im Office des Mr. Perry Niles. Dieses unterschied sich erheblich von dem des Mr. Jarlatan. Während dieser den größten Teil eines Hochhauses innehatte, begnügte sich Perxy Nües mit zwei Räumen in der Cliff Street Nummer 34 in der City, allerdings im teuersten Teil der City, in dem Geschäfträume mit Gold aufgewogen werden.
Das Hauptbüro, das wir zuerst betraten, war altmodisch eingerichtet. Man hätte glauben können, man sei bei einer der guten, alten, soliden Anwaltsfirmen der Stadt. Drei ältliche Mädchen tippten eifrigst, während zwei Angestellte Eintragungen in dickleibige Bücher machten.
Wir gaben unsere Karten ab, und es dauerte nur eine Minute, bis Mr. Niles uns bitten ließ, einzutreten.
Der Mann sah so ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er hatte so gar nichts an sich, was man von dem skrupellosen und mächtigen König der Waterfront voraussetzen sollte. Er war ein schlanker Herr mit dichtem, dunklem Haar und angegrauten Schläfen, dessen Ähnlichkeit mit Frank Sinatra tatsächlich verblüffend war.
»Good Morning, Gentlemen. Was verschafft mir das Vergnügen?«, lächelte er und wies auf zwei bequeme, wenn auch abgewetzte Ledersessel.
»Es handelt sich um Ihr Haus in der 49th Avenue, oder besser um dessen Mieterin«, nahm Phil das Wort.
Mr. Niles zog nachdenklich die Brauen zusammen, nahm das Haustelefon auf und sagte.
»Mr. Magpie, bitte, geben Sie mir die Akte 49th Avenue.«
Wir warteten einen Augenblick, währenddessen er Zigaretten anbot und uns das brennende Tischfeuerzeug herüberschob. Dann erschien Mr. Magpie mit einem roten Schnellhefter, den er zeremoniell vor seinem Chef deponierte.
»Ich danke schön, Mr. Magpie«, sagte dieser und schlug die Mappe auf.
»Diese Mieterin heißt Mrs. Gomez, Vornamen
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