026 - Das Totenhaus der Lady Florence
geöffnet. Die beiden Krankenträger mit der Bahre kamen
heraus. Jemand lag darauf. Bis zum Hals mit einer grauen Wolldecke zugedeckt.
Das Gesicht des Kranken oder Verletzten war bleich und reglos.
Iwan Kunaritschew beugte sich etwas nach vorn, um besser sehen zu können.
Den Mann auf der Bahre kannte er.
Es war Reginald Dortson!
Er atmete kaum noch. Die dünnen Augenlider wirkten durchscheinend. Hinter
den beiden Trägern kam Elvira Tranquill. Sie ging noch gebeugter, als dies
sonst der Fall war. Zwei Männer mussten sie stützen.
»Das Gewehr ist auf einmal losgegangen, gerade als er es an die Wand hängen
wollte«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang schwach und brüchig. »Hoffentlich
kommt er davon. Der Schuss ist genau in den Bauch gegangen. Oh, mein Gott, dass
ich das noch erleben muss!« Sie konnte kaum gehen, aber sie wollte dabei sein.
Während die beiden Krankenträger die Bahre in den offenstehenden Wagen schoben,
geleiteten die beiden Polizisten sie zum Führerhaus eines der bereitstehenden
Polizeifahrzeuge.
Elvira Tranquill hob den Kopf. In dem Augenblick fiel ihr Blick auf den
breitschultrigen Russen neben der Hausbewohnerin. »Aber das ist ... doch ...
der Mann, nehmen Sie den Mann fest!«
Iwan Kunaritschew verstand kaum ein Wort, aber er las sie an den
Mundbewegungen ab.
Es war zum Verrücktwerden!
Blitzschnell wandte er sich ab, boxte sich durch die Menschenmauer und
rannte los, noch ehe der Ruf: »Haltet diesen Mann!« durch die Nacht hallte.
Der Aufruhr war groß. Iwan Kunaritschew stürmte auf die Straßenecke zu. Es
war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit der Russe seinen Körper bewegte.
Er erreichte das wartende Taxi und steckte dem Fahrer einen
zusammengerollten Schein zu. »Kleine Anerkennung«, flüsterte er. »Dafür
brauchen Sie nichts anderes zu tun, als jetzt zurückzustoßen, kräftig Gas zu
geben und dann genau in entgegengesetzter Richtung die Straße hochzufahren. In
der gleichen Zeit halte ich mich fit und renne hier weiter.«
»Nanu? Ist Ihre Frau hinter Ihnen her?« wunderte sich der Fahrer.
»Schlimmer! Meine Schwiegermutter! Die hat den Teufel im Leib! Da verdrück'
ich mich lieber!«
●
Er konnte seine Verfolger in der Tat in die Irre führen.
Bis sie das Taxi stellten und erkannten, dass niemand drin saß, hatte Iwan
Kunaritschew einen bedeutenden Vorsprung. Er musste jetzt erst mal
untertauchen, zwei, drei Stunden Ruhe gewinnen, die Dinge ordnen, überlegen,
neu anfangen ... Zu hektisch war es seit seiner Ankunft in Plymouth zugegangen.
Er durchquerte eine dunkle Straße, ging durch einen Hinterhof und gelangte
in eine Gasse, wo Bars, Cabaretts und Stripteaselokale überwogen.
Hier irgendwo unterzutauchen, wäre nicht schlecht, ging es dem Russen durch
den Kopf.
Er überlegte noch drei Minuten lang, vergewisserte sich, ob sich kein
Mensch in seiner Nähe befand und aktivierte dann erst seinen PSA-Ring. Über den
eingebauten Miniatursender brachte er eine Botschaft für X-RAY-1 auf den Weg.
Er umriss kurz die Situation, in die er geraten war, und bat um Hilfe. Von New
York aus vermochte X-RAY-1 die Wogen mit einem einzigen Telefonanruf an der
richtigen Stelle zu glätten, ohne dass übergeordnete behördliche Stellen
Aufklärung verlangten über Art und Umfang seiner Mission.
Dann suchte er ein Stripteaselokal auf.
Iwan Kunaritschew ging von der Überlegung aus, dass er im Halbdunkel eines
Vergnügungsetablissements für die nächsten zwei Stunden am besten aufgehoben
war. Dann würde er weitersehen. Bis dahin waren sicher auch die letzten
Polizisten zurückgepfiffen. Es war anzunehmen, dass jetzt schon Streifen
unterwegs waren und die Straßen und Gassen der Umgebung durchkämmten.
Über dem Eingang des Etablissements leuchtete ein aus Neonröhren
zusammengestellter Strauß bunter Blumen. Das Lokal nannte sich Las Flores , und auf einer Tafel waren
die Namen der Exotinnen genannt, die hier auftraten.
Iwan Kunaritschew ging durch die Schwingtür. In der Garderobe gab er seinen
Mantel ab, erhielt eine kleine Plakette, auf der eine knallrote Tulpe aufgemalt
war, und aus einer Vase neben sich auf dem Tisch nahm die Garderobiere eine
frische, kurzstielige rote Nelke und überreichte sie ihm lächelnd.
Das Mädchen war eine Augenweide. Schlank, gebräunt, feine Glieder,
schimmernde Haut. Sie trug ein hauchdünnes Kleid, auf dem in Bauchhöhe nichts
mehr als eine große Fantasieblume gedruckt war.
»Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen«, wisperte
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