0260 - Die Mitternachts-Hexe

links. Aufheulendes Motorengeräusch und quietschende Reifen signalisierten, daß Bill nicht länger wartete.
    Wie ein graues Phantom raste der Jaguar aus dem Stand direkt auf die Meute der Tiergestalten zu!
    Und da geschah etwas Merkwürdiges: der Gesang der Lia Fail verstummte abrupt, durch die Monster ging ein heftiger Ruck, der sie inmitten ihrer Bewegungen stoppte und dann, um Haaresbreite vor dem heranjagenden Straßenkreuzer, lösten sich die Konturen der unheimlichen Gestalten auf und verschwanden laut- und spurlos von der mitternächtlichen Hauptstraße der Ortschaft!
    Pechschwarze Dunkelheit verschluckte sie, löschte sie vom Erdboden…
    Bill bremste und brachte den Wagen zum Stehen.
    Zamorra atmete auf.
    Aber zu früh!
    Gebannt hatte er das waghalsige Manöver des Freundes verfolgt und dabei die Lia Fail außer acht gelassen - und Nicole!
    Erst ihr Schrei machte ihn auf sie aufmerksam.
    Und dann gefror er vor Grauen, als er sah, was sich keinen Steinwurf entfernt, im Bannkreis der Hexe, abspielte…
    ***
    Flieh! grellte es durch Nicoles Bewußtsein, als sie die gespenstisch leuchtende Frauengestalt erreichte, die die Herrin der Tiergestalten zu sein schien, und feststellen mußte, daß der geheimnisvolle Ju-Ju-Stab nicht reagierte.
    Also handelte es sich bei der Frau um keine waschechte Dämonin, sonst hätte der Zauberstab aktiv werden müssen!
    Da war Nicole mit ihrem Latein am Ende.
    Flieh doch! schrie ihr Selbsterhaltungstrieb erneut und stoppte die Französin mitten im Lauf. Sie war der überirdisch strahlenden Gestalt mit den fein geschnittenen Gesichtszügen bereits so nahe, daß sie nur hätte den Arm auszustrecken brauchen, um sie berühren zu können.
    Aber das konnte sie nicht.
    Dieser Blick, der sie aus den Augen der anderen traf und bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele zu dringen schien… Der Blick lähmte sie, nahm ihr den Willen, die Kraft zur Flucht, drohte alles Vergangene auszulöschen.
    Zamorra - wer war Zamorra?
    Flüchtig blitzte der Name in ihr auf, als wollte er sie an etwas Bedeutungsvolles erinnern. Dann war er weg. Vergessen.
    »Komm. Komm mit mir«, hörte sie von weither die sanfte Stimme der Hexe. »Ich bin die Lia Fail. Komm mit in mein Reich… !«
    Mitkommen? dachte Nicole schaudernd. Mitkommen wohin?
    Sie spürte kaum, daß sie einen Fuß vor den anderen setzte und die letzte Distanz überbrückte, die sie noch von der Hexe trennte. Die hatte die Arme weit geöffnet und schloß Nicole nun in ihre Umarmung, als wollte sie eine gute Freundin vor der nächtlichen Kälte schützen.
    Nicole fühlte sich wie elektrisiert, als sie in direkte Berührung mit der kühlen Haut der Fremden kam. Etwas sprang wie ein Funke von der Hexe auf sie über und verwirrte ihre Gedanken noch stärker.
    Von irgendwoher hörte sie eine gellende Männerstimme, die nach ihr rief.
    »Nici!«
    Aber obwohl ihr eigener Name das Letzte war, was von ihrer Erinnerung an ihr früheres Leben noch verblieben war, vergaß sie den Ruf sofort wieder.
    Etwas anderes nahm all ihre Aufmerksamkeit gefangen. Sie spürte, wie sich ihr Körper veränderte, wie er sich auflöste in seine winzigsten Bestandteile und im Sog der Hexe mitgerissen wurde… fort in ihr schreckliches Reich…
    ***
    Müde ließ Zamorra das Schwert, das immer noch zum Hieb erhoben war, sinken. Sein Blick brannte an der spärlich erhellten Stelle fest, wo eben Nicole zusammen mit der Hexengestalt verschwunden war, als hätte sich der Boden unter ihnen aufgetan und blitzschnell wieder geschlossen. Keine Spur war zurückgeblieben, weder von ihnen noch von den Tiergestalten, die den Meister des Übersinnlichen angegriffen hatten.
    »Schau mal zum Himmel«, empfahl Bill, der ihm mit schweren Schritten entgegenkam, nachdem er sich aus dem Sitz des Jaguars geschält hatte. »Die Sterne… sie sind wieder da!«
    Zamorra nickte, und er brauchte nicht hinaufzublicken, um zu wissen, daß der Freund die Wahrheit sagte.
    »Die Lia Fail«, flüsterte er bitter. »Sie hat Nicole mitgenommen -wohin?«
    Bill mußte den Professor nur ansehen, um zu erkennen, wie es um ihn stand.
    »Das werden wir herausfinden«, erklärte er bestimmt und legte ihm den Arm um die Schulter. »Komm, gib mir das Schwert. Ich leg es zurück ins Auto.«
    Zamorra gab es ihm, aber er wirkte weiterhin abwesend mit seinen Gedanken.
    In der offenen Tür des Gasthofes drängten sich mittlerweile die ersten Zuschauer, die ihre Furcht überwunden hatten. Einige hatten sogar noch Zamorras