0263 - Das gläserne Grauen
verstanden? Gorgosen…«
Lilly Tonev gab keine Antwort. Sie wollte nichts sagen, nichts hören, und ihr wurde nicht bewußt, daß sie sich mit Tom Tiptree praktisch allein im Zimmer befand, denn Marion zählte nicht mehr.
Sie ging zur Seite.
Lilly sah die Mieterin liegen.
Während des Falls hatte sich der Bademantel wieder geöffnet. Ein entblößter Oberkörper zeigte sich den Augen des jungen Mädchens, und mit Erschrecken stellte Lilly fest, daß die Verglasung Fortschritte gemacht hatte.
Sie war nicht mehr zu stoppen…
Eine seltsam durchsichtige, spröde Schicht hatte sich gebildet. Sie lag auf der Haut, die immer dünner geworden war, und selbst die Haare der Frau schienen jetzt aus Glas zu bestehen.
Nichts wurde verschont.
Gorgosen-Rache…
Lilly Tonev hörte schwere Schritte. Tom Tiptree hatte es auf seinem Fleck nicht mehr ausgehalten. Er war um den Tisch herumgegangen und kam nun auf Lilly zu.
Steif stand sie auf dem Fleck.
Sie tat nichts, sie sagte nichts, sie hatte den Punkt erreicht, wo ihr alles egal war.
»Und jetzt bist du an der Reihe!« flüsterte Tom Tiptree, »diesmal hilft dir keiner…«
***
Die Harley war schnell, aber keine Rakete!
Die hätte sich Suko gern gewünscht, so aber mußte er auf der Straße bleiben und konnte leider nicht fliegen. Er duckte sich zusammen, versuchte so wenig Widerstand wie möglich zu bieten.
Der Inspektor war ein excellenter Fahrer und ein sicherer dazu. Er fuhr sonst immer den Verkehrsregeln entsprechend, in dieser Nacht warf er sie über Bord.
Trotzdem gefährdete er keinen Menschen, denn die Fahrbahnen waren so gut wie leer.
John Sinclair hatte ihm die Adresse gut beschrieben. Zudem kannte sich Suko in London aus, zwar nicht so gut wie ein Taxifahrer, aber er wußte sich zu helfen.
Er fuhr sogar Abkürzungen, und atmete auf, als er in die Straße einbog, wo das Mädchen wohnte.
Der Belag glänzte vor Nässe. Aus den Gullys dampfte es. Die Hausfronten waren dunkel. Fenster nicht erleuchtet. Die Scheiben wirkten wie matte Flecke.
Man schlief um diese Zeit.
Aufgereihte Mülltonnen warteten auf die Entleerung.
Suko rollte nahe am Gehsteig, damit er die Hausnummern besser erkennen konnte.
Sein Ziel war ein schmaler Altbau, doch die Häuser ähnelten sich sehr, denn neue Häuser gab es in dieser Gegend nicht. Vor dem Haus stoppte Suko seine Harley, bockte sie auf, nahm den Helm ab, schnallte ihn fest und tauchte in den Hauseingang.
Er wußte nicht genau, wo Lilly Tonev wohnte. Aus diesem Grunde leuchtete er mit seiner kleinen Lampe das Klingelbrett ab und entdeckte auch ihren Namen ziemlich weit oben.
Mit dem Knie drückte er gegen die Haustür. Der Inspektor war zufrieden, als sie aufschwang. Er warf noch einen Blick auf das Schloß. Es war defekt.
Auf leisen Sohlen huschte er in den dunklen Flur. Ein typischer Geruch umgab ihn. Leicht muffig und feucht. An Schimmel und alte Kleider erinnernd.
Je weiter sich Suko von der Tür entfernte, um so dunkler wurde es.
Fenster gab es keine. Suko nahm wieder seine Lampe in Anspruch. Der helle Finger wies ihm den Weg, und Suko gelangte schließlich in die letzte Etage, wo sich ein Gang vor ihm auftat, der beidseitig von Türen flankiert wurde.
Der Inspektor hatte noch immer das Flurlicht nicht eingeschaltet. Im Schein der Lampe suchte er nach den Namensschildern.
Lilly Tonev wohnte hinter der dritten Tür auf der rechten Seite. Suko blieb für einen Moment stehen und lauschte.
Zu hören war im ersten Augenblick nichts. Dann glaubte er, eine Männerstimme zu vernehmen, undeutlich und leise.
Seine Waffen hatte Suko griffbereit. Er drückte auf die Klinke, konzentrierte sich und atmete auf, als er die Tür nach innen stoßen konnte. Sein Optimismus wurde schnell zerstört, als die Tür plötzlich sperrte. Die Schuld trug eine Kette, die sich etwa in Augenhöhe spannte. Der Spalt allerdings war breit genug, um hindurchschauen zu können.
Im Zimmer war es hell. Suko sah die aus alten Möbeln bestehende Einrichtung, den Tisch und daneben die Beine eines Menschen.
Da lag jemand.
War er zu spät gekommen?
»Und jetzt bist du an der Reihe«, hörte er eine Männerstimme. »Diesmal hilft dir keiner…«
Die Worte waren von einem Mann gesprochen worden, den Suko nicht sehen konnte. Aber sie wiesen darauf hin, daß sich jemand in Gefahr befand.
Der Inspektor mußte verdammt schnell sein.
Er ging zwei Schritte zurück, schielte auf Tür und Kette, sammelte seine Kräfte und stieß sich ab.
Mit
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