0265 - In Brooklyn blüht der Galgenbaum
verlieren, wenn es nötig wurde, die 38er schnell zu ziehen.
Rechts und links gingen ein paar dunkel gestrichene Holztüren ab, an denen vergilbte Kärtchen die Namen der Zimmerbewohner anzeigten. Ich bezweifelte zwar, dass es hier - wenigstens im Erdgeschoss - auch nur noch einen von diesen Mietern gab, aber da ich keinen Haussuchungsbefehl hatte, war mir die Möglichkeit genommen, es nachzuprüfen. Trotzdem hätte ich jede Wette gehalten, dass kein einziger der Namen auf den vergilbten Kärtchen hier im Hause noch existierte.
Weiter hinten gabelte sich der Flur plötzlich. Ein zweiter Korridor führte im Winkel von neunzig Grad nach links ab. Ich blieb wieder stehen und lauschte. Irgendwo gab es das schwache Geräusch von dumpfen Stimmen. Aber es war viel zu schwach, als dass man auch nur ein Wort hatte verstehen können. Außerdem ließ sich nicht einmal feststellen, woher es kam.
Ich beschloss, meinen Weg erst einmal geradeaus weiterzugehen, bevor ich mir die Flurabzweigung vornehmen wollte. Wenn die Morgan-Gang ihr Home in der alten Sportschule aufgeschlagen hatte, war anzunehmen, dass es im Erdgeschoss sein musste. Sportklubs mit all ihren Trainingsgeräten liegen selten höher als im Keller oder bestenfalls im Erdgeschoss.
Meine Vermutung war nicht unberechtigt. Ziemlich gegen Ende des düsteren Flurs stieß ich auf der rechten Seite gegen eine Tür, die größer war als alle Übrigen und sogar aus zwei Flügeln bestand. Ich blieb abermals stehen, und legte mein Ohr ans Schlüsselloch. Kein Zweifel, die Stimmen, die ich vorher schon gehört hatte, kamen aus diesem Raum. Ich richtete mich wieder auf und sah mich um. Wenn ich die Lage des Gebäudes richtig einschätzte, musste dieser Raum hinter der doppelflügeligen Tür nach hinten hin liegen und wahrscheinlich auch Fenster zum Hof hin haben. Folglich bestand die Chance, dass Ralph und Bobby einen Blick riskieren würden. Ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen.
Ich nahm die Pistole aus der Schulterhalfter und ließ sie in meine rechte Manteltasche gleiten. Dann schob ich die Hand in diese Tasche und nahm die Waffe so, dass ich notfalls sogar durch die Tasche hätte schießen können.
Mit der linken Hand drückte ich die Klinke nieder. Die Tür ging nach außen auf, wie es bei allen Räumen Vorschrift ist, die für öffentliche Benutzung vorgesehen sind. Kaum hatte ich sie aufgezogen, da erschien ein Bulle von einem Mann auf der Schwelle und starrte mich finster an.
»He, was ist denn los?«, raunzte er. »Hier wohnt niemand.«
Ich warf ihm einen raschen Blick zu. Die brandrote, strichförmige Narbe von der Nasenwurzel hoch zur linken äußeren Stirnseite verriet ihn sofort.
»Verdrück dich, Stirn-Narbe«, sagte ich leise. »Oder du erlebst dein blaues Wunder!«
Er starrte mich verdattert an. ›Stirn-Narbe‹ gehörte damals zwar nicht zu den gesuchten Leuten, aber er hatte immerhin schon so oft Schwierigkeiten mit der New Yorker Polizei gehabt, dass er sich nicht mehr viel erlauben durfte. Und er wusste das ganz genau. Zögernd trat er einen Schritt zurück.
Ich schob mich an ihm vorbei und raunte gleichzeitig:
»Verschwinde aus meiner Reichweite, Stirn-Narbe! Sonst fange ich an, mich nach deinem Waffenschein zu erkundigen.«
Es war ein purer Bluff, denn ich konnte ja nicht wissen, ob er überhaupt eine Waffe bei sich trug, aber bei einem Burschen wie Stirn-Narbe, der schon viermal mit einer Schusswaffe ohne Berechtigung verurteilt worden war, stand zu erwarten, dass er seiner Vorliebe für solche gefährlichen Spielzeuge nicht untreu geworden war.
Dass ich Recht hatte, zeigte sich daran, dass Stirn-Narbe wie ein geprügelter Hund von dannen schlich. Und zwar vor mir nach rechts, dicht an der Wand entlang, zu einer abgeteilten Kabine. Sie hatte eine schmale Tür, und darauf gab es die bereits stark verblasste Aufschrift ›Umkleideraum‹. Vermutlich hatten sich hier seinerzeit die angehenden Sporthoffnungen ihrer Alltagskleidung entledigt.
Ich zog die Flügeltür mit der linken Hand hinter mir zu, während ich mich gleichzeitig in dem großen, saalartigen Raum vor mir umsah. Es gab einen richtigen Parkettfußboden, aber er war sicher seit langer Zeit nicht mehr gesäubert worden. In den Fugen stand grauer Staub. Der Raum war ungefähr zehn Yard lang und acht breit. Die linke Längsseite war zugleich die Hofseite des Gebäudes, und dort gab es vier sehr hohe Fenster. Mir war es, als ob ich hinter der ersten, vor Schmutz blinden Scheibe
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