029 - Der Unheimliche
ich für eine Woche zu einer Freundin fahren will. Er wurde furchtbar wütend und benahm sich wie ein Verrückter, raste und schrie und warf schließlich ein Glas nach mir.« Sie strich ihr Haar zurück und zeigte einen kleinen Schnitt, der ihr Haar mit Blut benetzt hatte. »Er verbot mir, mich vom Fleck zu rühren, dann setzte er sich in seinen Sessel und begann zu trinken, einen Kognak nach dem anderen. Anscheinend wurde er müde, denn er schloß die Augen; ich dachte, daß er eingeschlafen sei und wollte mich leise davonschleichen. Da stürzte er sich jedoch auf mich, packte mich am Arm und schleuderte mich auf das Sofa. Er phantasierte dauernd davon, daß er es jemandem heimzahlen würde. Endlich schlief er wirklich ein, aber ich hatte nicht mehr den Mut, mich von der Stelle zu rühren. Dann ging plötzlich das Licht aus.«
»Wann etwa war das?« fragte der Inspektor. »Möglichst genau, bitte.«
»Vielleicht vor zehn Minuten«, erklärte Elsa. »Es war fast völlig dunkel im Zimmer, die Vorhänge waren zugezogen, nur das Feuer im Kamin gab einen ganz schwachen Lichtschein, es war fast heruntergebrannt. Plötzlich knarrte die Tür, und ich spürte, daß jemand hereingekommen war. Dann leuchtete der Schein einer Taschenlampe über Mr. Tarn, der ganz zusammengesunken in seinem Sessel lag. Da bewegte er sich und sagte etwas im Schlaf.«
Der Inspektor unterbrach sie wieder:
»Waren Sie dabei, als Mr. Tarn telefonierte?«
Elsa nickte.
»Ja, das ist länger als eine Viertelstunde her. Ich glaubte, er hat mit Ihnen gesprochen. Sie sind Mr. Bickerson?«
Der Beamte bejahte und fragte:
»Ist Ihr Onkel gar nicht aufgewacht, als er angeleuchtet wurde?« Elsa schüttelte den Kopf.
»Nicht richtig, er bewegte sich nur im Schlaf und murmelte etwas. Dann ging die Taschenlampe wieder aus, und ich hatte Angst, mich zu bewegen, denn ich hielt den Fremden für einen Einbrecher. Und dann hörte ich Ihre Stimme, als Sie die Treppe heraufkamen. Mehr weiß ich nicht!«
»Haben Sie gesehen, wie dieser unbekannte Mann Ihren Onkel erstochen hat?«
Elsa verneinte. »Es war unmöglich, irgend etwas zu sehen.« Argwöhnisch schaute Bickerson auf das Mädchen. »Ich brauche Sie selbstverständlich als Zeugin, Sie müssen jederzeit für mich erreichbar sein. Wollen Sie nicht in ein Hotel gehen?«
»Ich bringe dich ins Palace«, schlug Ralf vor.
Er wollte nicht, daß die Polizei in den nächsten Tagen in Herbert Mansions vorspräche, und dadurch der Name seiner Frau und ihre tatsächlichen Beziehungen zueinander bekannt würden. Es war besser, Elsa in ein Hotel zu bringen.
Bickerson verständigte telefonisch das Polizeipräsidium von dem Mord und wartete jetzt auf die Fotografen und die Sachverständigen für Fingerabdrücke. Bis zu deren Eintreffen nahm er eine flüchtige Untersuchung des Arbeitszimmers vor.
Es war nur ärmlich möbliert. Ein verblichener, grüner Teppich, ein alter Schreibtisch, einige Stühle und ein Bücherschrank bildeten die Einrichtung. An den Wänden hingen einige minderwertige Ölbilder, in einer Ecke stand ein wohlgefüllter Schnapsschrank.
Auf dem Tisch waren eine volle und eine fast leere Kognakflasche, ein paar unbezahlte Rechnungen lagen dazwischen. Bickerson durchsuchte die Taschen des Toten, konnte aber nichts Besonderes finden.
Der Inspektor ging hinunter auf die Straße und hielt Ausschau nach dem Polizeiwagen. Da sah er, wie ein Mann sich dem Haus näherte. Der Beamte an der Tür hielt ihn an, und Bickerson beobachtete die kurze Unterhaltung.
Es war ein großer, hagerer Mann, der etwas gebeugt ging. Seine gebräunte Gesichtsfarbe verriet, daß er erst vor kurzem aus einem heißen Klima zurückgekehrt war. Bickerson erkannte ihn und ging auf ihn zu.
»Sie sind doch Major Amery?« fragte er.
»Das bin ich«, antwortete Amery. »Ich habe gehört, Tarn sei ermordet worden.«
Der Inspektor schaute ihn kurz und mißtrauisch an.
»Wer hat Ihnen das gesagt? Sind Sie ein Freund von Mr. Tarn?«
»Ich bin sein Arbeitgeber«, betonte Amery, »oder vielmehr, ich war es. Was Ihre andere Frage betrifft, so bin ich nicht blind und kann an Ihren Leuten hier vor dem Haus erkennen, daß ein Mord oder ähnliches geschehen sein muß. Mir ist bekannt, daß Maurice Tarn hier wohnt, und es gibt nur zwei Leute in diesem Haus, die ermordet worden sein könnten. Es ist also anzunehmen, daß Tarn das Opfer ist.«
»Wollen Sie hereinkommen? Vielleicht können sie mir etwas über Tarn erzählen, Major Amery? Hatte
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