029 - Der Unheimliche
er Feinde?«
»Ich weiß nichts über sein Privatleben. - Kann ich Miss Marlowe sprechen?«
»Woher wissen Sie, daß Miss Marlowe hier ist?« Der Inspektor runzelte die Stirn.
»Nun, sie wohnt doch hier?« meinte Amery. »Wirklich, Mr. Bickerson - ja, ich kenne Ihren Namen genau -, Sie haben keinen Grund, mich zu verdächtigen.«
Bickerson überlegte schnell, und als er wieder sprach, klang seine Stimme viel milder.
»Ich werde Miss Marlowe bitten, herunterzukommen, Sie dürfen Sie jetzt aber nicht mitnehmen. Miss Marlowe war im Zimmer, als der Mord begangen wurde, und ich brauche sie für weitere Aufklärungen.«
Amery nickte ernst. Er wartete und starrte düster aus dem Fenster. Bald hörte er leichte Schritte.
Elsa kam herein.
»Ich hörte, daß Sie große Unannehmlichkeiten haben?«
Aus seiner Stimme klang auch nicht die geringste Teilnahme, stellte Elsa sofort fest. Warum wollte er sie dann sprechen?
»Ich war zufällig in der Nachbarschaft und hörte von dem Vorfall. Ich dachte, vielleicht könnte ich Ihnen oder der Polizei irgenwie behilflich sein - obgleich ich zugeben muß, daß ich weniger als Sie oder irgendeiner seiner Bekannten über Mr. Tarn weiß. Wer ist jetzt bei Ihnen?«
»Mr. Hallam«, erwiderte sie. »Er war ein guter Freund von Mr. Tarn und ist auch mir ein sehr lieber Freund.« »So, Dr. Hallam!« Amery verzog das Gesicht. Dann fuhr er in seiner gewohnten, kurzen Sprechweise fort: »Brauchen Sie Geld?«
Elsa warf ihm einen erstaunten Blick zu:
»Nein, vielen Dank, Major Amery. Sie sind sehr freundlich . . .«
»Ihr Onkel wird noch Geld zu bekommen haben, und Sie könnten einen Gehaltsvorschuß nehmen«, fuhr er fort. »Ich erwarte Sie morgen früh pünktlich im Büro, morgen ist Posttag, und ich habe viel zu erledigen. Gute Nacht!«
Fassungslos starrte sie ihm nach; eine derartige Gefühllosigkeit war ihr unfaßbar. Die Hauptsache für ihn war also, daß sie zur gewohnten Zeit im Büro war. Dann überkam sie ein unbändiger Zorn, und mit funkelnden Augen kehrte sie zu Hallam zurück.
»Was wollte er?«
»Soweit ich es verstanden habe, wollte er sich vergewissern, daß ich morgen pünktlich zum Dienst antrete, weil Posttag ist und er viel zu erledigen hat.«
»Ein echter Gentleman!« höhnte Hallam. »Selbstverständlich war er voller Mitleid?«
»Er fand kein freundliches Wort - er ist wirklich ein Scheusal!«
Sie war jetzt nahe daran, in Tränen auszubrechen, und sie wollte allein sein, weit fort von jener mit einem Tuch verdeckten Gestalt im Arbeitszimmer - fort von Ralf, von allen Menschen, die sie kannte.
Die Klinke an der Tür bewegte sich, und Bickerson trat ein.
»Kennen Sie den?« fragte er und zeigte ihr einen neuen, weichen Filzhut. »Ich fand ihn in einer Ecke des Arbeitszimmers. Haben Sie ihn schon jemals gesehen?«
Elsa schüttelte den Kopf.
»Nein, mein Onkel hat niemals einen solchen Hut getragen.«
Bickerson betrachtete nachdenklich die Innenseite, die den Namen eines bekannten Geschäftes trug. Der Hut war grau und hatte ein schwarzes Band. Er dachte, daß der Verkäufer sich gewiß daran erinnern würde, wenn er den Hut einem Chinesen verkauft hätte.
»Sie sind ganz sicher, daß der Mann, der mit der Taschenlampe ins Zimmer kam, nicht gesprochen hat?«
»Ich bin ganz sicher.«
»Und Sie haben ihn nicht gesehen?«
»Nein, ich habe ihn nicht gesehen.«
»Aber es ist doch unmöglich, mit einer Taschenlampe einen hellen Gegenstand zu beleuchten, ohne daß der Widerschein den Besitzer verrät.«
Elsa blieb fest bei ihrer Behauptung.
»Ich habe niemanden gesehen. Ich sah nur den Lichtstrahl, und auch diesen nur einen ganz kurzen Augenblick.«
Warum tat sie das? Warum? fragte sie sich verzweifelt. Sie schützte einen Mörder - den Mörder von Maurice Tarn. Sie log, um einen grausamen und hartherzigen Schurken vor dem Gesetz zu schützen, und sie war über ihr eigenes Verhalten entsetzt. O ja, sie kannte den Mann, sie hatte ihn gesehen, so, wie der Inspektor es geschildert hatte, im Widerschein, als der Lichtstrahl auf die Zeitung gefallen war.
Der Mann war Feng Ho.
17
Elsa verbrachte eine schlaflose Nacht, obgleich sie in einem bequemen Bett in einem der ruhigsten Hotels im West End lag. Sobald sie ihre Augen schloß, erschien vor ihr das Bild dieser Schreckensnacht.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, sie stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Sie mußte Mr. Bickerson die Wahrheit sagen, darüber war sie sich klargeworden. Und Amery
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