03 Arthur und die Stadt ohne Namen
versank die Sonne hinter den Hochhäusern der Neustadt. Die vergessene Stunde, die in Wirklichkeit nicht länger als zwanzig Minuten dauerte, war angebrochen.
Larissa kletterte auf die Mauer und blickte sich um. Der Platz leerte sich. Die Müßiggänger verschwanden von den Wiesen und Wegen. Es waren nur noch Passanten, die den Platz auf ihrem Weg von irgendwoher nach irgendwohin überquerten.
Ich spürte, wie fremd ich in dieser Stadt war. Ich kannte mich nicht aus, hatte kein Zuhause hier. Die Menschen vor uns verfolgten alle ein Ziel. Sie eilten nach Hause, zu Freunden, ins Café oder zur Arbeit. Und wir? Wir befanden uns an einem fremden Ort, dessen Sprache wir nicht verstanden. Unsere engsten Angehörigen waren verschwunden oder lagen im Koma. Wir hatten keine Freunde hier, keine persönlichen Dinge und im Augenblick nicht einmal einen Plan.
Meine melancholische Stimmung entsprach der Tageszeit. Die Sonne war inzwischen ganz untergegangen. Rund um den Platz sprangen automatisch die großen Kugellampen an. Sie verströmten einen gelblichen Schein, der zu meinen trüben Gedanken passte.
Ein Mann um die dreißig, gekleidet in Thawb und Jeansjacke, näherte sich uns vorsichtig. In sein noch junges Gesicht hatten sich etliche Sorgenfalten eingegraben, die so gar nicht zu dem klaren Blick und den Lachfältchen um den Mund passen wollten. Im Gegensatz zu den meisten Männern in Sanaa trug er keinen Schnurrbart und auch kein Kopftuch.
»’Afwan«, sagte er mit leiser Stimme und einem nervösen Lächeln. »Entschuldigung«, und fuhr auf Englisch fort: »Verzeihen Sie, wenn ich Sie einfach anspreche. Sagt Ihnen der Name Lackmann zufällig etwas?«
»Hayyid!«, rief ich. »Sind Sie es?«
»Psst.« Er warf einen ängstlichen Blick über die Schulter. »Nicht so laut, bitte.«
Larissa war von der Mauer herabgesprungen. »Sie haben meine Eltern geführt«, wisperte sie eindringlich.
Er nickte. »Du musst Larissa sein. Sie haben viel von dir erzählt.«
Ich spürte ihre Erregung. »Können Sie uns zu ihnen führen?«
»Ich denke schon. Aber darüber sollten wir nicht an diesem Ort sprechen.« Er warf erneut einen Blick über die Schulter. »Das ist zu gefährlich.«
»Dann gehen wir doch zu uns«, schlug Maurice vor. »Da sind Sie garantiert sicher.«
Hayyid war einverstanden. Inzwischen war es fast ganz dunkel geworden. Wir machten uns auf den Weg, vorbei am großen Springbrunnen.
Da sah ich ihn.
Es war derselbe Mann wie vor dem Restaurant, dessen war ich mir sicher. Er war nicht nur identisch gekleidet, sondern blickte auch genau mit dem gleichen konzentrierten Blick von uns weg. Ich stieß Larissa an.
»Guck dir mal unauffällig den Typen im blauen Sakko am Brunnen an. Ich bin mir sicher, dass er uns seit heute Morgen folgt.«
Sie bückte sich, als wolle sie ihren Schuh zubinden, und studierte den Mann aus den Augenwinkeln.
Sie richtete sich wieder auf. »Mir ist er bis jetzt noch nicht aufgefallen.«
»Er stand heute Mittag schon vor dem Restaurant, in dem wir gegessen haben.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Inzwischen hatten wir den Rand des Platzes erreicht und tauchten in das Gewühl der Straßen ein. Ich warf noch einmal einen Blick über die Schulter, konnte aber nicht erkennen, ob der Mann uns folgte. Handelte er im eigenen Interesse? Oder hatte ihn jemand auf uns angesetzt? Und wenn ja, wer? Oder war ich einfach nur paranoid?
Ich wandte mich wieder Hayyid zu, der neben Larissa und mir ging. »Wie haben Sie uns eigentlich erkannt?«, fragte ich, während wir uns einen Weg durch die Menschenmenge auf dem Bürgersteig bahnten.
Er deutete auf Larissas Basecap, auf der die drei Großbuchstaben »HPL« prangten. »Howard Phillips Lovecraft«, lächelte er. »Da wusste ich sofort, dass ihr wegen mir hier seid.«
Larissa nahm ihre Mütze ab und betrachtete sie. »Das hat nichts mit Lovecraft zu tun«, stellte sie fest. »Das ist ein Werbegeschenk eines Fußbodenherstellers. HPL steht für High Pressure Laminate . Hier, seht ihr?« Sie wies auf das Kleingedruckte unter den drei Buchstaben und auf ein Firmenlogo auf der Rückseite der Cap.
»Der Zufall mal wieder«, sagte ich. »Falsche Mütze, richtiger Kontakt.«
Hayyid blickte uns fragend an. »Das ist ein Insidergag«, erklärte ich.
»Und Sie sind wirklich die ganzen Jahre jeden Tag in der Abenddämmerung zum Tahrier-Platz gegangen?«, wollte Larissa wissen.
Er nickte. »Ich war immer überzeugt, dass irgendwann jemand kommen wird. Deshalb
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