03 - Auf Ehre und Gewissen
Hut wuchsen grüne und weiße Federn in die Höhe.
»Ich dachte mir doch, daß ich Sie noch antreffen würde«, sagte sie, während sie einen Stapel Hefter in ihrem Arm durchsah. »Das kam heute nachmittag für Sie, Inspector. Per Telefon. Von« - da sie sich beharrlich weigerte, eine Brille zu tragen, hatte sie Mühe zu lesen, was auf dem Hefter stand - »Inspector Canerone in Slough. Der vorläufige Autopsiebefund in Sachen -«
Wieder kniff sie die Augen zusammen.
Lynley stand auf. »Matthew Whateley«, sagte er und streckte den Arm nach dem Hefter aus.
»Ist Deb auch zu Hause?« fragte Lynley, als er Cotter die schmale Treppe hinauf folgte.
Es war fast acht Uhr, ungewöhnlich, daß St. James um diese Zeit noch in seinem Labor war. Er hatte zwar in der Vergangenheit lange die Gewohnheit gehabt, sich bis tief in die Nacht hinein in seine Arbeit zu vergraben, aber in den letzten drei Jahren, seit seiner Verlobung und darauffolgenden Heirat mit Deborah, hatte er das ganz aufgegeben gehabt.
Cotter schüttelte den Kopf. Er blieb auf der Treppe stehen, und obwohl sein Gesicht unbewegt war, war die Besorgnis in seinem Blick zu erkennen. »Sie war fast den ganzen Tag unterwegs. Sie wollte sich eine Cecil-Beaton-Ausstellung im Victoria und Alben ansehen. Und einen Einkaufsbummel machen.«
Die Erklärung war wenig überzeugend. Das Victoria und Albert Museum war längst geschlossen, und Lynley kannte Deborah gut genug, um zu wissen, wie wenig Vergnügen es ihr bereitete, in Kaufhäusern herumzustöbern.
»Einen Einkaufsbummel?« wiederholte er skeptisch.
»Hm.« Cotter ging weiter.
St. James war über eines seiner Mikroskope gebeugt, als sie eintraten, und spielte mit der Einstellung. Am Mikroskop war eine Kamera angebracht, mit der er seinen Befund sofort aufnehmen konnte. Der Computer beim Fenster spie mit rhythmischem Geklapper lange Papierbogen voller Zahlenkolumnen und Diagrammen aus.
»Lord Asherton, Mr. St. James«, meldete Cotter.
»Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Brandy?«
St. James hob den Kopf. Lynley sah erschrocken, wie eingefallen das schmale Gesicht war; es schien ausgelaugt von Kummer und Erschöpfung. »Für mich nichts, Cotter«, antwortete er. »Und du, Tommy?«
Lynley lehnte dankend ab und wartete schweigend, bis Cotter den Raum verlassen hatte. Aber auch als sie allein waren, wurde es ihm schwer, eine sichere Grundlage zu finden, auf der sich ein Gespräch mit dem Freund aufbauen ließ. Zuviel stand zwischen ihnen, das anzusprechen verboten war.
Lynley holte sich einen der Hocker unter dem Arbeitstisch hervor und schob einen großen braunen Umschlag zum Mikroskop hinüber. St. James öffnete ihn und überflog die Papiere, die er ihm entnommen hatte.
»Ist das der vorläufige Befund?« fragte er.
»Ja. Die toxikologische Untersuchung hat absolut nichts ergeben, St. James. Und keinerlei Traumata am Körper.«
»Die Verbrennungen?«
»Durch Zigaretten verursacht, wie wir vermuteten. Aber eindeutig keine so schweren Verletzungen, daß sie zum Tod geführt hätten.«
»Hier steht, daß sie Fasern im Haar gefunden haben«, bemerkte St. James. »Was für welche? Natürliche? Synthetische? Hast du mit Canerone gesprochen?«
»Ja, gleich nachdem ich den Bericht durchgesehen hatte. Er konnte mir nur sagen, daß seine Leute erklärten, es handle sich um eine Gewebemischung. Natürliche und synthetische Bestandteile. Das natürliche Material ist Wolle. Für den anderen Teil sind die Untersuchungsergebnisse noch nicht da.«
St. James blickte nachdenklich zu Boden. »Nach deiner Beschreibung dachte ich an Hanf, wie er zur Herstellung von Stricken behandelt wird. Aber das kommt nicht in Frage, wenn wir es hier mit natürlichen und synthetischen Substanzen zu tun haben. Zumal sie bereits wissen, daß eine der Substanzen Wolle ist.«
»Ja, das war auch mein erster Gedanke. Aber der Junge war mit Baumwollschnur gefesselt, nicht mit Strick. Wahrscheinlich mit festen Schnürsenkeln, meinen Canerones Experten. Und er war geknebelt. In seinem Mund befanden sich Wollfasern.«
»Ein Strumpf.«
»Vielleicht. Und zusätzlich hatte man ihm ein Baumwolltaschentuch um den Mund gebunden. Auf seinem Gesicht waren Baumwollfasern.«
St. James kehrte zum ersten Punkt zurück. »Was besagen denn die Fasern in seinem Haar nach Ansicht von Canerones Leuten?«
»Sie haben mehrere Hypothesen. Möglicherweise stammen sie von einem Material, auf dem der Junge lag; von der Bodenmatte eines Autos, von einer alte
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