03 - Auf Ehre und Gewissen
schätzungsweise 36 Kilo. Aufgefunden um 17 Uhr 05.
Dies alles lief an Lynley vorbei, der mit seinen Gedanken ganz woanders war. Der einzige Grund, weshalb er überhaupt aufmerksam wurde, war, daß ihm am Ende der Meldung der Name der Person, die die Leiche gefunden hatte, praktisch ins Auge sprang: Deborah St. James, Cheyne Row, Chelsea.
In der provisorischen Polizeizentrale bei der Kirche St. Giles sah Inspector Canerone auf seine Uhr. Mehr als drei Stunden waren seit Entdeckung des toten Kindes vergangen. Er wollte nicht daran denken.
Er meinte, nach achtzehn Jahren bei der Polizei müßte der Tod ihn unberührt lassen. Er müßte doch fähig sein, einen Leichnam mit einem gewissen Grad an innerer Distanz wahrzunehmen; nicht den Menschen zu sehen, der ein gewaltsames Ende gefunden hat, sondern nur die eigene Aufgabe als Polizeibeamter.
Doch an diesem Abend hatte sich die ganze schöne Sachlichkeit in Luft aufgelöst, und Canerone wußte auch, warum. Der Junge hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit seinem eigenen Sohn. Einen entsetzlichen Moment lang hatte er sogar geglaubt, es wäre Gerald, und vor seinem inneren Auge war eine Folge verhängnisvoller Ereignisse abgelaufen, die mit Geralds Entscheidung begonnen hatte, nicht länger bei seiner Mutter und ihrem zweiten Mann in Bristol leben zu wollen, und die mit seinem Tod geendet hatte. Die einzelnen Sequenzen reihten sich in Canerones Phantasie in logischem Ablauf aneinander. Gerald hatte in der Wohnung angerufen und war, als niemand sich meldete, einfach durchgebrannt, um nach Slough, zu seinem Vater zu gehen. Auf der Straße hatte ihn jemand mitgenommen, irgendwo gefangengehalten und gefoltert, um sich ein paar Minuten sadistischer Befriedigung zu verschaffen. Nach der Folterung - oder vielleicht schon während ihr - war er gestorben, allein, in Todesangst, verlassen. Natürlich hatte Canerone, nachdem er sich den Leichnam mit gründlichem, klarem Blick angesehen hatte, erkannt, daß es nicht Gerald war. Doch der zutiefst erschreckende Gedanke, daß es sein Sohn hätte sein können, zerstörte die Gleichgültigkeit, mit der er meinte, seine Arbeit tun zu müssen. Und jetzt war er den Nachwirkungen dieses Moments preisgegeben, der seinen Panzer gesprengt hatte.
Er sah seinen Sohn selten, begründete es damit, daß er es wegen seiner Arbeit nicht schaffte, ihn häufiger als ab und zu am Wochenende zu sehen. Aber das war eine Lüge, und er sah ihr jetzt ins Gesicht, während er nach Abzug der Leute von der Spurensicherung und des Arztes, der den Leichnam ins Krankenhaus begleitete, allein mit einer Beamtin, die nur darauf wartete, endlich zusammenpacken zu können, im Wagen saß. In Wahrheit sah er seinen Sohn deshalb so selten, weil er es kaum noch ertragen konnte, ihn überhaupt zu sehen. Wenn er ihn sah, und sei es auch in völlig unbedrohlicher Umgebung, mußte er sich eingestehen, was er verloren hatte und blickte damit in die Leere, die von seinem Leben Besitz ergriffen hatte, seit Frau und Kind ihn verlassen hatten.
Canerone schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Er sah aus, als sei er viel zu stark. Wenn er ihn trank, würde er wieder die halbe Nacht im Bett stehen. Er versuchte einen Schluck und verzog das Gesicht; der Kaffee schmeckte widerlich bitter. Seine Gedanken waren immer noch bei dem kleinen Jungen, den sie am Friedhof gefunden hatten. Hände und Füße des Kindes waren gefesselt gewesen; sein Körper voller Brandmale; man hatte ihn weggeworfen wie Abfall. Er war Gerald so ähnlich.
Canerone war tief erschüttert. Er hätte nicht einmal sagen können, was zuerst getan werden mußte, um das Räderwerk der Justiz ins Rollen zu bringen. Das Beste wäre es unter diesen Umständen, dachte er, den Fall einem Kollegen zu übergeben. Aber dazu sah er keine Möglichkeit. Sie hatten nicht genug Leute.
Das Telefon klingelte. Von seinem Platz bei der Tür hörte er mit, was die Kollegin sagte.
»Ja, ein kleiner Junge. - Nein, wir haben keine Ahnung, woher er kommt. Im Moment sieht es so aus, als hätte man die Leiche einfach hier fallen gelassen. - Nein, Sir, Unterkühlung oder ein Unfall scheinen es nicht zu sein. Der Junge war gefesselt. - Nein, wir haben keine Ahnung, wer -« Sie hielt inne und lauschte mit zusammengezogenen Brauen. Dann sagte sie nur: »Da verbinde ich Sie am besten mit dem Inspector. Er ist da.«
Canerone drehte sich um. Die Beamtin reichte ihm den Hörer. Damit kam die Erlösung.
»Inspector Lynley«, sagte sie. »New
Weitere Kostenlose Bücher