03 - Auf Ehre und Gewissen
gar nicht angezogen, Mama«, sagte Barbara.
»Du hast dich heute überhaupt nicht angezogen.« Sie spürte, wie sie in einem schwarzen Loch der Depression versank, während sie die Worte sprach. Wie lange noch, fragte sie sich, würde sie es schaffen, ihrem Beruf nachzugehen und sich gleichzeitig um ihre Eltern zu kümmern, die wie Kinder geworden waren?
Doris Havers lächelte unbestimmt. Sie strich sich wie zur Bestätigung mit beiden Händen über das Nachthemd. Dann biß sie sich auf die Lippen. »Vergessen«, sagte sie. »Ich hab's vergessen. Ich hab mir meine Alben angeschaut - ach, Kind, ich wär so gern noch länger in der Schweiz geblieben, du nicht auch? Ja, und da hab ich gar nicht gemerkt ... Soll ich mich jetzt anziehen, Kind?«
Barbara seufzte und drückte beide Hände an die Schläfen, als könnte sie den aufsteigenden Kopfschmerz dadurch vertreiben. »Nein, ich glaube nicht, Mama. Es ist ja fast Zeit zum Zubettgehen für dich, nicht?«
»Aber ich könnte es. Ich könnte mich anziehen, und du könntest mir zuschauen und aufpassen, ob ich alles richtig mache.«
»Du würdest es schon richtig machen, Mama. Laß dir doch ein Bad einlaufen.«
Doris Havers krauste die Stirn bei diesem neuen Gedanken. »Ein Bad?«
»Ja. Aber bleib dabei. Nicht daß das Wasser wieder überläuft. Ich komme gleich rauf zu dir.«
»Und hilfst du mir dann, Kind? Dann kann ich dir von Argentinien erzählen. Da fahren wir als nächstes hin. Reden sie da eigentlich spanisch? Ich glaube, wir müssen ein bißchen mehr Spanisch lernen, ehe wir fahren. Man möchte sich doch mit den Einheimischen unterhalten können. Buenos dias, señorita. Como sa llama? Das hab ich im Fernsehen gelernt. Es reicht natürlich längst nicht.
Aber es ist ein Anfang. Wenn sie in Argentinien spanisch sprechen. Könnte auch portugiesisch sein. Irgendwo da reden sie portugiesisch.«
Barbara wußte, daß ihre Mutter stundenlang so weiterbrabbeln konnte. Sie tat es oft genug, kam manchmal nachts um zwei oder drei zu Barbara ins Zimmer, um ziellos draufloszuerzählen, ohne sich um die Bitten ihrer Tochter, doch wieder zu Bett zu gehen, zu kümmern.
»Das Bad«, erinnerte Barbara sie. »Ich seh inzwischen mal nach Dad.«
»Dad geht's gut heute, Kind. So tapfer. Wirklich gut. Sieh nur selbst nach.«
Barbara ging ins Wohnzimmer.
Ihr Vater saß in dem Sessel, in dem er immer saß, und sah sich das Sonntagabendprogramm an, das er sich jeden Sonntag abend ansah. Auf dem Boden häuften sich die Zeitungen, die er dort hingeworfen hatte, nachdem er sie in gewohnter Oberflächlichkeit durchgeblättert hatte. Er war in seinem Verhalten wenigstens berechenbarer als ihre Mutter. Er lebte nach festen Gewohnheiten.
Barbara beobachtete ihn von der Tür aus, blendete den Krach des Fernsehers aus, um sich statt dessen auf das Geräusch seines röchelnden Atems zu konzentrieren. Seit zwei Wochen ungefähr hatte er noch mehr Mühe als sonst. Der Sauerstoff, der ihm fortwährend durch Schläuche zugeführt wurde, schien nicht mehr auszureichen.
Jimmy Havers, der die Anwesenheit seiner Tochter vielleicht spürte, drehte sich in seinem abgeschabten alten Ohrensessel. »Barbie!« Er lächelte zur Begrüßung wie immer und zeigte dabei braun verfärbte Zähne. Barbara betrachtete voll Sorge seine blassen, eingefallenen Wangen, und seine Fingernägel hatten einen stumpfen graublauen Ton angenommen. Sie brauchte gar nicht erst durchs Zimmer zu gehen, um zu erkennen, daß die Adern an seinen Armen zu nichts geschrumpft waren.
Sie trat zu dem Behälter auf dem fahrbaren Tisch neben seinem Sessel und stellte die Sauerstoffzufuhr neu ein. »Morgen haben wir einen Termin beim Arzt, Daddy.«
Er nickte. »Morgen um halb neun. Da müssen wir mit den Hühnern aufstehen, Barbie.«
»Ja.« Barbara fragte sich, wie sie diesen Besuch beim Arzt mit beiden Eltern an der Hand schaffen sollte. Seit Wochen graute ihr davor. Undenkbar, ihre Mutter allein im Haus zurückzulassen, während sie ihren Vater zum Arzt begleitete.
Barbara war sich klar darüber, daß es an der Zeit war, sich Hilfe zu holen. Aber nicht irgendeine wohlmeinende Sozialarbeiterin, die einmal am Tag vorbeikam, um sich zu vergewissern, daß das Haus noch stand, sondern eine Hilfe, die den ganzen Tag da sein würde. Eine zuverlässige Person. Jemand, der an ihren Eltern persönliches Interesse haben würde.
Es war ausgeschlossen. Es war nicht zu schaffen. Es gab keine andere Möglichkeit, als irgendwie weiterzumachen
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