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03 - Auf Ehre und Gewissen

03 - Auf Ehre und Gewissen

Titel: 03 - Auf Ehre und Gewissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Realität sah anders aus: Von Beginn an hatte John Corntel für sie die Möglichkeit dargestellt, endlich die Ruhe zu finden, die sie sich wünschte.
    Sie hatte, als sie so gezielt daran gegangen war, den Mann einzufangen und ihre eigene Zukunft zu sichern, nicht damit gerechnet, daß sie sich in ihn verlieben würde und alles, was ihn betraf - seine Gedanken, sein Schmerz, seine innere Zerrissenheit, seine Vergangenheit und seine Zukunft -, ihr so wichtig werden würde. Das hatte sie erst gemerkt, als sie schon gefangen war. Und als sie sich bewußt geworden war, wie stark ihre Gefühle für John waren, als sie auf die für sie typische direkte Art diesen Gefühlen entsprechend gehandelt hatte, war alles in die Brüche gegangen.
    Und nun konnte sie nicht mehr von Liebe auf Freundschaft umschalten. Trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war - trotz ihrer Tränen des Entsetzens, trotz seiner tödlichen Verlegenheit -, liebte und begehrte sie ihn immer noch, obwohl sie ihn nicht verstand, er nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte.
    Das Geräusch der sich öffnenden Tür riß sie aus ihren Gedanken. Sie blickte von ihren Notizen auf, die vor ihr auf dem Pult lagen, und sah, daß Chas Quilter in den Chemiesaal gekommen war. Er entschuldigte sich mit einem Lächeln für seine Verspätung und sagte: »Ich war -«
    »Ich weiß«, unterbrach sie. »Wir machen gerade die drei Aufgaben, die ich an die Tafel geschrieben habe. Schreiben Sie sie einfach ab und sehen Sie, wie weit Sie mit der Lösung kommen.«
    Er nickte und setzte sich an seinen Platz. Es waren nur acht Schüler in der Klasse - drei Mädchen und fünf Jungen -, und kaum hatte Chas sich gesetzt und sein Heft aufgeschlagen, begannen zwei der Jungen flüsternd auf ihn einzureden.
    Emilia wartete einen Moment und hörte, wie der eine fragte: »Was wollten sie wissen?«, und der andere: »Wie war's? Hast du -«
    Dann fuhr sie dazwischen. »Sie haben zu arbeiten«, sagte sie energisch. »Konzentrieren Sie sich auf Ihre Aufgaben. Alle bitte.«
    Die beiden Jungen murrten, überrascht über den scharfen Ton, aber das störte Emilia wenig. Es gab Dinge, die wichtiger waren als die Befriedigung müßiger Neugier, und ihr Augenmerk galt in diesem Moment vor allem dem Jungen, der rechts von Chas Quilter saß.
    Brian Byrne trug einen Großteil der Verantwortung für das, was Matthew Whateley zugestoßen war. Er war der Hausälteste von Erebos. Seine Pflicht war es, dafür zu sorgen, daß im Haus Disziplin und Ordnung herrschten, daß die Jungen sich an das Internatsleben gewöhnten, daß die Regeln eingehalten und Strafen verhängt wurden, wenn Anlaß dazu bestand.
    Aber Brian Byrne hatte versagt, und Emilia sah deutlich, wie schwer die Last dieses Versagens auf dem Jungen lag. Die gekrümmten Schultern, die niedergeschlagenen Augen, das nervöse Zucken an seinem rechten Mundwinkel verrieten es ihr. Sie hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und getröstet.
    Brian würde als Folge von Matthew Whateleys Tod mit härtester Kritik rechnen müssen. Die Vorwürfe, die er sich zweifellos selbst machte, waren sicher quälend genug, aber viel schlimmer würden die sein, die er von seinem Vater zu hören bekommen würde. Giles Byrne verstand sich darauf, andere niederzumachen, und wußte jeweils genau, welche Waffen er zu wählen hatte. Bei seinem eigenen Sohn kannte er die Schwachstellen besonders gut und wußte sie zu treffen. Emilia konnte ein Lied davon singen. Sie hatte am letzten Elternsprechtag beobachtet, wie er vor der Geschichtsarbeit seines Sohnes gestanden hatte, die neben anderen Arbeiten im Ostkreuzgang ausgelegen hatte. Byrne hatte sie nur flüchtig durchgeblättert, ehe er bemerkt hatte: »Ganze zehn Seiten, hm?«, um dann stirnrunzelnd hinzuzufügen: »Ich denke, du solltest dir eine bessere Schrift angewöhnen, wenn du wirklich auf die Universität willst, Brian.« Damit war er weitergegangen, kalt und desinteressiert, als langweile ihn das alles unendlich. Man konnte schließlich als Mitglied des Verwaltungsrats der Arbeit des eigenen Sohns nicht größeres Interesse entgegenbringen als der der anderen Schüler.
    Emilia hatte Brians Gesicht gesehen, eine Mischung aus tiefer Verletztheit und Scham. Sie war drauf und dran gewesen, zu ihm zu gehen, um ihm über den schlimmen Moment hinwegzuhelfen, als Chas Quilter aus der Kapelle gekommen war. Bei seinem Anblick hatte sich Brians Stimmung schlagartig gewandelt. Strahlend war er Chas

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