03 - Auf Ehre und Gewissen
etwas anderes an diesen Platz hängst, etwas, das aufheitert und beruhigt.«
»Es würde nicht stimmen.«
»Aber das tut er nicht. Hast du dich mal nach dem Grund gefragt?«
Sie wußte ihn genau. Er lag im Kern all dessen, was sie an ihrem Mann liebte. Nicht körperliche Kraft, nicht geistige Stärke, nicht unerbittliche und unerschütterliche Aufrichtigkeit, sondern die Bereitschaft, das Gegebene anzunehmen, die Fähigkeit weiterzumachen, die Entschlossenheit, den Kampf nicht aufzugeben.
Was für eine Ironie des Schicksals, dachte sie, daß es nun so gekommen ist; daß wir beide beschädigt sind. Doch Simon hatte keinen Einfluß auf die Ereignisse gehabt, die zu seiner Verletzung geführt hatten. Sie hingegen hatte ganz allein bestimmt. Sie hatte sich entschieden, sich selbst zu beschädigen, weil es damals der leichtere Weg zu sein schien, weil sie nicht bereit gewesen war, Ungelegenheiten auf sich zu nehmen.
Als Lynley nach Hause kam, fand er die Post dort, wo sie immer lag, auf seinem Schreibtisch in der Bibliothek, beschwert mit einem überdimensionalen Vergrößerungsglas, das Helen ihm aus Jux zu seiner Beförderung zum Inspector geschenkt hatte.
»Das Spiel ist im Gange, mein lieber Lynley«, hatte sie gesagt und ihm ein großes Päckchen in buntem Geschenkpapier überreicht. Darin waren das Vergrößerungsglas gewesen, dazu eine Meerschaumpfeife und eine Jagdmütze à la Sherlock Holmes.
Er hatte gelacht, erfreut über das witzige Geschenk und erfreut, sie zu sehen, heiter und gelöst wie immer, wenn sie bei ihm war.
Lynley nahm die Post und ging zum Rosenholztisch, wo er seine Getränke stehen hatte. Er schenkte sich einen Whisky ein, dann sah er die Briefe durch, auf der Suche wie jeden Tag in den vergangenen zwei Monaten nach einem mit einer griechischen Marke. Es war nichts dabei - nur Rechnungen, Werbung, ein Brief von seinen Anwälten, einer von seiner Mutter, ein dritter von seiner Bank.
Er setzte sich an den Schreibtisch, riß den Brief seiner Mutter auf und überflog das leichte Geplauder, mit dem sie auf ihre eigene liebevolle Art versuchte, ihn aus seiner Einsamkeit zu holen.
Jemand ging durch den Korridor vor der Bibliothek und summte dabei mit Verve eines der populären Lieder aus Les Misèrables vor sich hin. Denton, dachte Lynley. Sein Diener war ein leidenschaftlicher Theatergänger. Die Tür öffnete sich, der Gesang schwoll an und brach abrupt ab, als Denton ins Zimmer trat und Lynley am Schreibtisch sah.
»Entschuldigen Sie«, sagte er mit einem verlegenen Lächeln. »Ich wußte nicht, daß Sie da sind.« »Sie wollen mich doch nicht verlassen, um zur Bühne zu gehen, Denton?«
Der junge Mann lachte. »Nie im Leben. Haben Sie zu Abend gegessen?«
»Nein, noch nicht.«
Denton schüttelte den Kopf. »Viertel vor zehn, Mylord, und Sie haben noch nicht gegessen?«
»Ich hatte zuviel um die Ohren. Da hab ich's ganz vergessen.«
Denton schien nicht überzeugt. Sein Blick fiel auf die Post. Da er sie in die Bibliothek heraufgebracht hatte, wußte er zweifellos, was für Briefe dabei waren und was für welche nicht. Doch er sagte nichts, fragte nur, ob seine Lordschaft lieber ein Omelett oder eine Suppe hätte.
»Ein Omelett, Denton. Vielen Dank«, antwortete Lynley.
Er war nicht hungrig, aber er konnte wenigstens den Schein des Normalen wahren.
Als Denton gehen wollte, schien ihm wieder einzufallen, warum er überhaupt ins Zimmer gekommen war. Er zog einen gefalteten Zettel aus der Tasche.
»Das wollte ich Ihnen auf den Schreibtisch legen. Kurz nach neun hat Scotland Yard angerufen.«
»Weshalb?«
»Um Ihnen eine Nachricht zu übermitteln, die heute dort einging. Der Pförtner von Bredgar Chambers hat versucht, Sie zu erreichen. Ein gewisser Frank Orten. Er sagt, er hätte eine Schuluniform gefunden, als er hinausging, um das Feuer zu löschen, in dem der Müll verbrannt wird. Alles da - Blazer, Hose, Hemd, Krawatte. Sogar Schuhe. Er meinte, Sie würden sich die Sachen sicher ansehen wollen; sagt, er sei sicher, daß sie dem toten Jungen gehört haben.«
11
Frank Orten wohnte in einem asymmetrisch gebauten kleinen Haus gleich innerhalb des Tors, das auf das Schulgelände führte. Ein breites Erkerfenster, von einer Platane beschattet, gab den Blick auf die Auffahrt frei. Einer der Flügel stand offen, um die Morgenluft einzulassen. Von dort kam das beharrliche Greinen eines Kindes. Es war das erste, was Lynley und Havers hörten, als sie aus dem Wagen stiegen und auf das
Weitere Kostenlose Bücher