03 - Auf Ehre und Gewissen
entschlossen, in ein paar Tagen, wenn sich alles ein bißchen beruhigt hat, mit ihm zu sprechen.«
»Um welche Zeit sind Sie nach Tinsley Green gefahren?«
»Ich?« Sie tippte sich mit dem Finger auf die Brust.
»Ich weiß nicht mehr genau. Es muß nach neun gewesen sein. Halb zehn vielleicht.«
»Und wann sind Sie zurückgekommen?«
»Das weiß ich zufällig ganz genau. Es war zwanzig vor zwölf.«
»Sie sind auf direktem Weg hin- und ebenso direkt wieder zurückgefahren?«
Sie zupfte an ihrem Spitzenkragen. Ihre Antwort hatte etwas Förmliches, das verriet, daß sie die Bedeutung und den Verdacht hinter Lynleys Fragen verstand. »Ja. Ich bin auf direktem Weg hin- und wieder zurückgefahren.«
»Und Freitag nachmittag? Freitag abend?«
Diese Fragen betrachtete Elaine Roly als Affront, und sie ließ es sich anmerken. »Was meinen Sie?« fragte sie kühl.
»Wo waren Sie da?« »Am Nachmittag habe ich die Wäsche sortiert. Abends habe ich in meiner Wohnung ferngesehen.«
»Allein?«
»Ganz allein, Inspector.«
»Hm.« Lynley blieb stehen, um sich das Gebäude anzusehen, das sie jetzt erreicht hatten. »Haus Kalchas« stand über der Tür. »Was für seltsame Namen man diesen Wohnheimen gegeben hat«, bemerkte er. »Kalchas, der Agamemnon überredete, seine Tochter zu opfern, damit ihm die Götter günstige Winde für die Fahrt nach Troja schicken. Ein Bote des Todes.«
Ein Moment verstrich, ehe Elaine Roly antwortete. Ihre Stimme war wieder freundlich, als hätte sie sich entschlossen, die Beleidigung in Lynleys vorangegangenen Fragen zu überhören. »Ob Todesbote oder nicht, Kalchas starb vor Schmach, als Mopsos sich als der bessere Mann erwies.«
»In Bredgar Chambers wartet wohl überall eine Belehrung, hm?«
»Das gehört zur Philosophie der Schule. Sie hat sich bewährt.«
»Dennoch glaube ich, daß ich mich in Haus Erebos wohler fühlen würde als in Kalchas. Lieber die Urfinsternis als den Boten des Todes. Sie sagten, daß Sie seit achtzehn Jahren dort tätig sind?«
»Ja.«
»Wie lange ist John Corntel dort Hausvater?«
»Im ersten Jahr. Er hat seine Sache gut gemacht. Sehr gut. Wirklich. Und es wäre auch so geblieben, wenn nicht -« Sie brach ab. Lynley sah sie an. Ihr Gesicht war ärgerlich.
»Wenn nicht Matthew Whateley auf der Bildfläche erschienen wäre?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Matt hat nichts damit zu tun. Mr. Corntel sorgte gut für Matt, für alle Jungen, bis er abgelenkt wurde.« Sie sprach das letzte Wort wie einen Fluch, und Lynley brauchte sie nicht aufzufordern, weiterzusprechen. »Miss Bond«, erklärte sie. »Vom ersten Moment an, als sie letztes Jahr an die Schule kam, hat sie Mr. Corntel schöne Augen gemacht. Ich hab's sofort gemerkt. Sie sucht dringend einen Ehemann und ist fest entschlossen, ihn zu kapern. Diese kleine Hexe hat sich vorgenommen, ihm gründlich den Kopf zu verdrehen. Und hat's auch geschafft, wenn Sie's genau wissen wollen.«
»Aber Sie sagen, daß Mr. Corntel trotz der Ablenkung durch Emilia Bond gut für die Schüler sorgte, die ihm anvertraut waren. Keine Schwierigkeiten mit Matthew?«
»Überhaupt keine.«
»Haben Sie Matthew gekannt?«
»Ich kenne alle Jungen im Haus, Sir.«
»Hatte Matthew irgendeine Besonderheit? Ist Ihnen etwas aufgefallen, was andere vielleicht gar nicht bemerkt haben?«
Sie überlegte nur kurz, ehe sie antwortete: »Nur das mit den Farben eigentlich. Die Schildchen, die ihm seine Mutter in die Kleider genäht hatte, um ihm bei der Zusammenstellung der Farben zu helfen.«
»Ach, die Zahlen in den Kleidungsstücken? Ja, die sind mir aufgefallen. Sie muß sehr um sein Aussehen besorgt gewesen sein, daß sie sich soviel Mühe machte. Den meisten Jungen ist es doch völlig gleichgültig, was sie anziehen. Hat Matthew sich beim Anziehen wirklich an die Anweisungen seiner Mutter gehalten?«
Elaine Roly sah ihn erstaunt an. »Er mußte, Inspector. Er konnte die Farben nicht unterscheiden.«
»Er konnte die Farben nicht unterscheiden?«
»Nein. So eine Art Farbenblindheit, wissen Sie. Besondere Schwierigkeiten hatte er mit den Schulfarben. Das hat mir seine Mutter beim Elterntag selbst erzählt. Sie fürchtete, die Etiketten könnten sich bei der Wäsche lösen. Dann wäre Matt völlig hilflos, sagte sie. Anscheinend arbeiteten sie schon seit Jahren mit dem System, ohne daß ein Mensch etwas ahnte.«
»Und hier?«
»Hier hab's auch nur ich gewußt. Höchstens vielleicht noch die Jungen in Matts Schlafraum
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