03 - Auf Ehre und Gewissen
könnten was gemerkt haben.«
Und wenn - die Farbenblindheit des Jungen wäre sicher Anlaß zu Neckereien und Sticheleien gewesen, die Matthew Whateley sehr gequält hätten.
12
»John, wir müssen miteinander reden. Das weißt du. Wir können uns nicht bis in alle Ewigkeit aus dem Weg gehen. Ich halte das nicht aus.«
John Corntel hätte am liebsten nicht einmal aufgeblickt. Hätte den zaghaften Druck ihrer Hand auf seiner Schulter am liebsten ignoriert. Seit dem Ende des Morgengottesdienstes saß er in der kleinen Andachtskapelle, weil er hoffte, die Stille könne ihm als Ersatz für inneren Frieden dienen. Aber die Hoffnung war vergebens gewesen. Er spürte nur eine Kälte, die sich aus dem Inneren seines Körpers auszubreiten und alle Gefühle zu gefrieren schien. Mit der Kälte in der Kapelle hatte das nichts zu tun.
Auf Emilias Worte antwortete er nicht. Er ließ seinen Blick von dem Marmorengel auf dem Altar zu den Gedenktafeln an den Wänden schweifen. »Geliebter Schüler«, las er. »Edward Hsu«, geliebter Schüler. Wie wunderbar war es, in diesen Worten die tiefe Verbindung zu erkennen, die zwischen zwei Menschen bestehen konnte, wenn der eine lehren und der andere lernen wollte. Hätte er selbst, dachte er, seine Schüler mehr geliebt, hätte er sich ihnen so zugewendet, wie er sich anderen Dingen zugewendet hatte, so befände er sich jetzt nicht in solchem inneren Aufruhr.
»Ich weiß, daß du erst um zehn Unterricht hast, John. Wir müssen reden.«
Ihm war klar, daß er es nicht länger vermeiden konnte. Diese letzte Aussprache mit Emilia stand seit Tagen ins Haus. Er hatte lediglich gehofft, sie ein wenig hinausschieben zu können, etwas mehr Zeit zu gewinnen, um die Gedanken und Worte zu sammeln, die ihm helfen sollten, ihr das Unerklärliche zu erklären. Hätte sie ihm eine Woche Zeit gelassen, so wäre es ihm vielleicht gelungen, die inneren Kräfte zu mobilisieren, die er brauchte, um das Gespräch einigermaßen über die Runden zu bringen, ohne völlig zusammenzuklappen.
Aber er hätte wissen müssen, daß Emilia keine Frau war, die geduldig wartete, bis der andere zu ihr kam.
»Es geht jetzt nicht«, sagte er. »Wir können hier nicht miteinander reden.«
»Dann gehen wir ein Stück. Die Spielfelder sind um diese Zeit alle frei. Da hört uns niemand.«
Sie wirkte sehr entschlossen, aber als Corntel sie nun doch anblickte - wie sie da in der zu großen schwarzen Robe neben ihm stand -, sah er, daß ihr Gesicht bleich war, die Augen rot und verschwollen. Zum erstenmal seit Tagen erwachte in ihm ein Gefühl für einen anderen Menschen, das ihn einen Moment lang aus der Selbstbetrachtung und der Isolation der Verzweiflung riß. Aber das Gefühl verging gleich wieder, und sie standen einander gegenüber wie zuvor, durch einen Abgrund getrennt, den Worte allein nicht überbrücken konnten. Sie war so jung, zu jung. Wieso hatte er das vorher nicht wahrgenommen?
»Komm, John«, sagte sie. »Bitte. Komm mit.«
Ja, ein letztes Gespräch wenigstens schuldete er ihr wohl. Es war vielleicht albern anzunehmen, daß einige zusätzliche Tage der Vorbereitung - einige zusätzliche Tage der Vermeidung - dieses letzte Beisammensein einem von ihnen leichter oder erträglicher gemacht hätte.
»Na gut«, sagte er und stand auf.
Sie verließen die Kapelle, durchquerten im Schatten des Standbilds von Heinrich Tudor den Hof und traten durch das Westtor auf der anderen Seite.
Emilia hatte recht gehabt. Abgesehen von einem Gärtner, der das Gras am Fuß einer Kastanie am Spielfeldrand schnitt, war kein Mensch hier. Er hätte ihr und sich das Gespräch gern erleichtert, aber die Hemmungen, unter denen er im Umgang mit Frauen immer schon gelitten hatte, behinderten ihn auch jetzt. Sie war es, die zuerst sprach, aber ihre Worte konnten die Spannung zwischen ihnen nicht lockern.
»Ich liebe dich, John. Ich kann es nicht mit ansehen, wie du mit dir selbst umgehst.«
Sie hielt den Kopf gesenkt, die Augen zu Boden gerichtet, auf den Rasen vor ihren Füßen. Sie reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter, und beim Anblick ihres hellen, weichen Haars mußte Corntel an das feine Engelshaar denken, mit dem seine Mutter zu Weihnachten immer den Baum geschmückt hatte.
»Ich bin es nicht wert«, sagte er. »Das weißt du jetzt, wenn du es nicht schon vorher gewußt hast.«
»Ja, erst dachte ich auch so«, bestätigte sie. »Ich glaubte, du hättest mich ein Jahr lang an der Nase herumgeführt und mir vorgemacht,
Weitere Kostenlose Bücher