03 Göttlich verliebt
was es deiner eigenen Nichte antut.«
Pallas ging auf Helen zu, die Lippen wütend verzerrt. Doch Helen ließ sich nicht einschüchtern. Sie hob das Kinn und forderte ihn heraus, sie zu schlagen. Soweit es Helen betraf, war dieser Kampf längst überfällig. Schon als Pallas Helen zum ersten Mal begegnet war, hatte er nur Daphne in ihr gesehen. Und nach so vielen Jahren, in denen er Daphne für die Mörderin seines Bruders gehalten hatte, konnte er seinen Hass nicht einfach abstellen. Pallas hatte Helen immer angesehen, als rechnete er jeden Augenblick damit, dass sie die Familie Delos verriet, und Helen hatte es allmählich satt.
»Denkst du dasselbe auch von mir, Helen? Dass ich meine Tochter dieser Qual aussetze, damit ich mich … was? Besser fühle, was das Morgen betrifft?«, fragte Castor ruhig und trat zwischen Helen und Pallas. Helen spürte Lucas’ Hand auf ihrem Rücken und gab ihre aggressive Haltung auf.
»Nein«, gab sie zu und senkte den Blick. »Das denke ich nicht von dir, Castor.«
»Cassandras Gesundheit liegt mir sehr am Herzen. Aber das wahre Problem ist der Tyrann. Das war schon immer so«, fuhr Castor fort, der jetzt zur ganzen Familie sprach. »Ich weiß, was ihr von Orion haltet, aber ich fürchte, eure Zuneigung vernebelt euren Blick für die Wahrheit.«
»Nicht schon wieder!«, fauchte Helen. »Orion ist nicht der blöde Tyrann, okay?«
»Warte, Helen«, sagte Matt und hob eine Hand. »Wir haben noch nicht alle Fakten.« Er sah Castor an. »Was hat das Orakel über den Tyrannen gesagt, bevor wir hier waren? Hat irgendjemand den genauen Wortlaut mitgeschrieben?«
»Ja, ich«, sagte Ariadne. Durch die hitzige Diskussion hatte Helen gar nicht mitbekommen, dass sie am Pult ihres Vaters saß und eifrig schrieb. »Ich habe auch das meiste mit dem Handy aufgenommen. Aber ich will es nicht noch mal hören. Du vielleicht?«
Matt schüttelte den Kopf. Er streckte die Hand aus und Ariadne reichte ihm ihre Notizen. Helen las über Matts Schulter mit, während Ariadne ihnen erklärte, was sie aufgeschrieben hatte.
»Sie hat diese erste Zeile etwa hundert Mal wiederholt, deswegen die Pünktchen. Ich glaube, Cassandra hat so lange gegen die Parzen gekämpft, wie sie konnte.« Ariadne senkte einen Moment lang den Blick, sammelte sich und zeigte dann entschlossen auf ihre Notizen. »Ich habe jedes Mal einen Absatz gemacht, wenn eine neue Stimme übernommen hat. Und die Worte, die alle zusammen gesprochen haben, ganz am Ende, habe ich blau markiert.«
Der Tyrann erhebt sich …
Der Große Zyklus, hinausgezögert seit dreitausenddreihundert Jahren, ist fast beendet.
Das Blut der vier Häuser ist vermischt und der gesamte Olymp vereint in Einem.
Die Zeit ist gekommen. Die Kinder müssen sich über die Eltern erheben – oder werden von ihnen verschlungen.
Der Held,
der Liebhaber,
der Beschützer,
der Tyrann – haben die Bühne betreten.
Der Krieger wartet an der Seite und zieht als Letzter in die Schlacht.
Der Tyrann erhebt sich mit unbeschränkter Macht. Eine Entscheidung bestimmt das Schicksal aller.
Nemesis schickt ihren Boten, uns erblinden zu lassen! Dunkelheit! Dunkelheit bricht herein! Er muss getötet werden oder alles wird zerstört!
An dieser Stelle sahen Helen und Matt einander mit gerunzelter Stirn an. Diesen letzten Satz hatten sie bereits gehört – als sie mit Orion in die Bibliothek gekommen waren. »Nemesis schickt ihren Boten« und »Dunkelheit bricht herein« hörte sich für Helen ziemlich bedrohlich an. Wenn die Parzen damit wirklich Orion meinten, trugen diese Worte nicht gerade zu seiner Entlastung bei.
»Ist diese Nemesis eine böse Göttin oder so was?«, fragte Helen Matt leise, weil sie sicher war, dass er wie üblich mehr über diese ganze Sache gelernt hatte als sie.
»Nein, sie ist nicht böse. Und sie ist viel älter als die Götter«, antwortete Matt. »Sie ist eine Tochter von Nyx, genau wie die Parzen.«
»Dann ist Nemesis also vermutlich die verschleierte Schwester, die Cassandra erwähnt hat?«, fragte Helen und sah die anderen hoffnungsvoll an.
»Das ist möglich«, sagte Castor.
»War das der einzige Teil, in dem alle drei Parzen gleichzeitig gesprochen haben? Dieser letzte Satz?«, fragte Matt Ariadne eindringlich.
»Ja. Sie klangen sehr aufgeregt«, sagte Ariadne.
»Das war der Moment, in dem wir in die Küche kamen«, sagte Helen, die merkte, worauf Matt hinauswollte. »Diese ganze Sache mit Nemesis und der Dunkelheit lag
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