03 - komplett
blau-schwarzen Livree, dass er für einen sehr feinen Herrn arbeitete. „Wirst du mir jetzt endlich sagen, was du willst? Abgesehen von einer saftigen Ohrfeige, heißt das ...“
„Na ja, ich weiß nicht, ob ich meine Wünsche wirklich aussprechen sollte. Ist ja irgendwie noch früh am Tag und so. Du könntest mich für ungehobelt halten.“
Noreen errötete heiß. Also hatte er tatsächlich unsittliche Absichten. Das hatte sie sofort erkannt.
Ihre Verwirrung belustigte Sam. Er lächelte. „Tut mir leid. Sieht so aus, als müsstest du dich wieder hinknien. Wenn ich nicht so viel zu tun hätte, würde ich ja mit Hand anlegen ... sehr gern sogar!“
„Verschwinde gefälligst von hier!“
„Wer ist da, Noreen?“
Sam sah an dem rundlichen Mädchen vorbei zu der schlanken Frau, die gerade an der Tür erschien. Er erkannte sie sofort. Als Joseph Walsh ihm den Brief gegeben und ihn aufgefordert hatte, ihn umgehend zu übergeben, hatte er sich schon gedacht, dass er für sie war. Sie sah blasser aus als das letzte Mal und ein wenig verhärmt, doch noch immer wunderschön mit ihrem stolzen, ernsten Gesicht, dem schimmernden goldblonden Haar und den riesigen blauen Augen. Auf Sam machte sie den Eindruck einer Frau, die man mit großer Behutsamkeit behandeln musste, um sie nicht zu verletzen. Sonst würde sie zerbrechen. Insgeheim fragte er sich, was wohl der Grund war für die plötzlich so mürrische Stimmung seines Herrn in letzter Zeit. Ein Lächeln erschien um seine Lippen. Was auch nicht stimmte zwischen den beiden, es würde wieder in Ordnung kommen. Denn auf der ganzen Welt gab es keinen anständigeren Gentleman als seinen Herrn. Wahre Liebe, dachte er, und blickte unwillkürlich zu der Bediensteten. Er nahm zwei Stufen und reichte ihr den Brief, damit sie ihn an ihre Herrin weitergeben konnte.
Die Dame, die seinem Herrn das Leben schwer machte, hieß also Miss Rachel Meredith. Er verbeugte sich tief und respektvoll und war im nächsten Moment schon wieder auf der Straße. Nachdem er einige Schritte getan hatte, warf er noch ein letztes Mal einen Blick zurück und stellte fest, dass das irische Dienstmädchen ihm nachstarrte. Ein Grinsen legte sich um seine Lippen, und er drehte sich dreist um und verbeugte sich wieder, bevor er pfeifend weiterging.
Noreen, verärgert darüber, dass er sie dabei ertappt hatte, wie sie ihm nachsah, kniete sich schnell hin, griff nach der Bürste und bearbeitete die oberste Treppenstufe mit unnötiger Heftigkeit.
Rachel wunderte sich über Noreens rote Wangen und sah dem Botenjungen nachdenklich nach. „Ich weiß nicht, warum, aber er kam mir irgendwie vertraut vor“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Noreen.
„Vertraut? Wohl eher vertraulich ... viel zu vertraulich“, nuschelte Noreen finster und schrubbte energisch weiter.
Inzwischen war Rachel ins Haus zurückgekehrt, betrachtete den Brief in ihrer Hand und fragte sich, ob es sich um eine Einladung handelte. Immerhin hielt sie sich seit einigen Tagen wieder in der Stadt auf, und die Leute hatten es sicher schon erfahren.
Das Siegel auf dem gefalteten Papier erregte ihre Aufmerksamkeit. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie an ein Fenster trat und erkannte, dass es sich um das Siegel des Earl of Devane handelte. Es war vielleicht endlich die Erlaubnis für ihre Familie, die Hochzeit auf Windrush zu veranstalten. Daraufhin begab sie sich sofort in das Morgenzimmer.
Doch sie hatte sich zu viel erhofft. Es war nur eine Einladung, und noch dazu mit nachlässiger Hand geschrieben.
Ich weiß, Sie wollen London so bald wie möglich verlassen. Genau wie ich. Ich gedenke, mich bei der nächsten Gelegenheit nach Irland einzuschiffen. Am Wochenende gebe ich eine Abendgesellschaft bei mir am Berkeley Square. Ich möchte mich auf diese Weise von Bekannten, Freunden und Verwandten verabschieden. Sollten Sie immer noch den Wunsch hegen, eine gewisse Geschäftsangelegenheit mit mir zu verhandeln, bevor ich abreise, ist es mir an dem Abend genehm, Sie zu empfangen. Zu keiner anderen Zeit wird es mir möglich sein, Sie anzuhören. Ich habe auch eine Einladung an Ihre Freunde, die Saunders, gehen lassen. Wenn Sie sich entschließen sollten zu kommen, ist es mir bewusst, wie viel leichter es für Sie sein wird, sich in angemessener Begleitung zu befinden.
Der Ihre, Devane
Rachel biss sich heftig auf die Unterlippe. Es würde keine Erlaubnis geben. Er hatte sie die ganze Zeit angelogen. Aber sie hatte es schon zu ahnen
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