03 - Winnetou III
keine Sonne mehr; hier oben aber war die Dämmerung eben erst angebrochen, und es wäre uns recht gut möglich gewesen, einen Teil des Ufers noch abzusuchen.
„Reiten wir weiter?“ fragte Marshal, welcher sich sehnte, das Wiedersehen mit seinem Bruder zu feiern.
„Meine Brüder werden hier lagern“, antwortete Winnetou in seiner kurzen und bestimmten Weise.
„Well“, stimmte Sam bei. „Hier gibt es prachtvolles Moos für uns zum Lagern und am Wasser auch Gras für die Pferde. Und wenn wir uns einen versteckten Ort aussuchen, wozu es zum Beispiel später keine Zeit mehr wäre, können wir sogar ein kleines indianisches Feuer machen, um den Puter zu braten, den Bob heute geschossen hat.“
Ja, Bob hatte heute wirklich zum erstenmal einen Braten geschossen, und er war nicht wenig stolz auf diesen unumstößlichen Beweis, daß er ein höchst nützliches Mitglied unserer Gesellschaft sei. Nach einigem Suchen fanden wir einen Platz, wie Sam ihn wünschte, und wir lagerten uns.
Bald brannte das Feuer, und Bob war emsig beschäftigt, dem charakteristischen Vogel Nordamerikas sein Federkleid auszuziehen. Unterdessen wurde es nun wirklich Nacht – pechschwarze Nacht, und die leise flackernde Flamme ließ uns die Bäume, Äste und Zweige der Umgebung in grotesken Gestaltungen erscheinen. Jetzt war auch der Puter gebraten. Wir hielten eine köstliche Mahlzeit und schliefen dann ruhig bis früh.
Am Morgen brachen wir auf und gelangten bald in das Tal des Short-Rivulet. Es war nicht lang, wie ja auch sein Name sagte (‚Kurzes Flüßchen‘). Der Bach hat nur schwachen Zufluß von wenigen hügelförmigen Höhen her, und es schien, daß er während der warmen Jahreszeit ganz vertrocknete.
Wir fanden zerstörte Zelte, aufgewühlte Placers, zerrissene Erdhütten und überall die Spuren eines heftigen Kampfes.
Kein Zweifel, die Goldgräber waren von Räubern überfallen worden. Aber wir sahen keine Leichen.
Nach längerem Suchen bemerkten wir drüben unter den Bäumen des Urwaldes ein größeres Zelt. Es war auch zerrissen, zerschnitten und zerfetzt. Keine einzige Spur, kein Fund, kein einziger kleiner Gegenstand verriet, wem es gehört hatte.
Wie enttäuscht war Bernard, welcher vollständig überzeugt gewesen war, seinen Bruder hier zu finden!
„Hier hat Allan gewohnt“, behauptete er.
Er ahnte es, und die Ahnung mochte ihm wohl das Richtige sagen. Wir umritten das rings vom Urwald eingefaßte Tal und trafen die Spuren der abgezogenen Räuber; sie führten nach dem Westabhang des Gebirgsstocks zu.
„Allan wollte von hier aus über die Lynn nach dem Humboldthafen. Die Räuber sind ihm nach!“ meinte Bernard.
„Gewiß; vorausgesetzt, daß er entkommen ist“, antwortete ich. „Der Umstand, daß wir keine Leiche sehen, beweist noch nicht, daß die Überfallenen entkommen sind. Ich denke, die Toten wurden in den See geworfen.“
Tief unter den Wassern des Black-eye lagen wohl jetzt die Männer, welche von Reichtum, Glück und Genuß geträumt hatten. Der finstere Dämon, Gold genannt, hatte sie aus ihren Träumen gerissen und in den Tod gestürzt!
„Und wer waren die Mörder?“ fragte Marshal grimmig.
„Der Mulatte und die beiden Morgans, die uns so lange Zeit entgangen sind, trotzdem wir uns an ihre Fersen geheftet haben.“
„Jetzt aber werden sie unser“, behauptete Sans-ear, „und dann gehören sie keinem anderen als Sam Hawerfield, der seine Abrechnung mit ihnen zu halten hat.“
„Also vorwärts, und ihnen nach!“
Die Fährte war nicht so deutlich, daß wir die einzelnen Spuren hätten zählen können; weiter unten aber hatte sich im Hochwald ein jeder seine eigene Bahn gesucht, und wir zählten zwanzig Tiere. Ich betrachtete die Eindrücke eine ganze Strecke lang genauer. Das Ergebnis war:
„Es sind sechzehn Reiter und vier bepackte Maultiere. Die Hufe der letzteren haben sich schärfer abgezeichnet, und Maultiere sind es, dies sieht man genugsam daraus, daß sie öfters störrisch gewesen sind. Die Räuber werden also nicht so schnell vorwärts kommen wie wir, und so ist alle Hoffnung vorhanden, daß wir an sie kommen, noch ehe sie Allan ereilen.“
Am Nachmittag erreichten wir die Stelle, an der sie ihr erstes Nachtlager gehalten hatten. Wir setzten unseren Ritt solange fort, als wir die Fährte erkennen konnten, und legten uns dann nur auf einige Stunden zur Ruhe. Bei Tagesgrauen ging es schon wieder weiter, und bereits am Vormittag kamen wir an die Stelle ihres zweiten
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