032 - Der Opferdolch
Winteruniformen, Stiefel, Handschuhe und Koppel, und sie hatten Kalaschnikow-Karabiner über den Schultern hängen.
Dorian beobachtete sie durch ein Fernglas, das einmal Faik Noli gehört hatte. Er rief nach Vavra.
Sie hatte gerade geputzt, um die gröbsten Spuren der nächtlichen Verwüstung zu beseitigen. Rasch trocknete sie sich die derben, rissigen Hände an der Schürze ab.
»Milizer«, sagte sie verächtlich. »Zum Arbeiten zu faul, aber in der Kneipe und bei Unruhen immer dabei. Ich glaube, dich hat jemand verraten, Dorian. Es wird wohl Gjergj gewesen sein, mein Schwager, der hinterhältige Halunke mit dem bösen Maul, der sich gern mit seiner ganzen Sippschaft hier auf dem Hof einnisten möchte.«
Vavra hatte eigentlich Lehrerin werden wollen, wie Dorian beim Mittagessen von ihr erfahren hatte. Nach dem Tod ihrer älteren Schwester aber war sie zur Hoferbin bestimmt worden, hatte Faik Noli geheiratet und seitdem den Hof bewirtschaftet. Ihre Eltern waren seit einigen Jahren tot.
»Wo kann ich mich verstecken?«
»Im alten Brunnen hinterm Haus«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Dort werden sie dich sicher nicht finden.«
Dorian und Vavra liefen aus dem Haus. Vavra hatte eine Strickleiter vom Dachboden geholt. Sie hängte den Haken oben an der Strickleiter an die gemauerte Brunnenumrandung, und Dorian stieg hinab in den Brunnenschacht.
Die Wasserader, die den Brunnen gespeist hatte, war vor einigen Jahren versiegt; vor dem Haus hatte ein neuer Brunnen gebohrt werden müssen. Der Brunnenschacht war sechs Meter tief. Am Grund des Brunnens lagen allerlei Unrat und alte Knochen herum.
Vavra warf ihm eine graue Pferdedecke herunter. Dorian sollte sich damit zudecken, damit man ihn nicht sah. Aber unten im Brunnen entdeckte er eine Höhle in dem harten, felsigen Boden, die das Wasser im Laufe der Jahrhunderte ausgewaschen hatte. Dorian kauerte sich hinein. Hier unten war es warm. Es roch dumpf und etwas modrig. Obwohl an der albanischen Küste die Temperaturen selten unter Null Grad Celsius sanken, war es in den letzten Tagen doch empfindlich kalt gewesen. Das war auf den kühlen Nordwind zurückzuführen.
Nach einer Stunde ließ Vavra Noli die Strickleiter wieder herab. Die Milizsoldaten waren fort, und Dorian konnte sein Versteck verlassen.
»Sie haben einen Engländer gesucht«, sagte Vavra. »Der Unteroffizier hat dich beschrieben. Er hat mir auch eine Zeitung dagelassen, in der von der Landung einer Verkehrsmaschine auf einem albanischen Militärflugplatz die Rede ist. Es ist schade, daß das Radio beim Kampf gegen die Wiedergänger vernichtet wurde, sonst könnten wir jetzt Nachrichten hören.«
Im Haus sah Dorian sich die albanische Zeitung an. Vavra las ihm den Artikel auf der ersten Seite vor. Aus ungeklärten Gründen sei eine DC 9 der Austrian Airlines widerrechtlich in der Nähe eines albanischen Geheimprojekts gelandet. Da die Maschine technisch einwandfrei war und auch genügend Treibstoff hatte, vermuteten die mißtrauischen albanischen Behörden allerlei. Besatzung und Passagiere waren verhört worden. Angeblich hatten sie keine Ahnung gehabt, daß sie in Albanien landeten; sie hatten geglaubt, in Wien-Schwechat zu sein. So stand es in dem Artikel. Natürlich glaubte das niemand.
Es war zu diplomatischen Schwierigkeiten gekommen, die österreichische Regierung und einige andere hatten protestiert und die Freilassung der Besatzung und Passagiere sowie die Herausgabe der DC 9 verlangt.
Die Albanier ließen sich Zeit. Anhand der Passagierliste hatten sie festgestellt, daß Dorian Hunter und eine Stewardeß namens Elise Hellgaht spurlos verschwunden waren.
Vavra Noli hatte die Milizsoldaten leicht abwimmeln können. Sie hatte dem Unteroffizier erzählt, ihr Schwager wolle ihr Böses und habe sie verleumdet. Über die Verwüstungen im Haus hatte sie sich ausgeschwiegen. Der Unteroffizier hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Seine Order lautete, nach einem englischen Spion zu suchen.
Am nächsten Morgen wollte Vavra Noli nach Vlora gehen und einige handfeste Männer und Burschen verständigen. Dorian hatte vor, mit ihnen zusammen am übernächsten Tag die Gewölbe und Katakomben unter der Festung Kanina zu untersuchen. Irgendwo dort unten mußte der Mbret stecken, wenn er den Angaben Vavras Glauben schenken konnte.
Dorian saß am prasselnden Kaminfeuer und betrachtete den Griff des Opferdolches. Er bestand aus Gold und Leder und war reich mit winzigen Miniaturen verziert. Sie
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