0322 - Das Fratzengesicht
genau erkennen konnte.
Die rechte war die eines Chinesen. Deutlich war das Profil zu erkennen.
Die flache Nase, die Mongolenfalte an dem Auge, die buschige, nach oben stechende Braue, der schmale Mund mit dem verkniffenen Winkel und die eine Seite des schmalen Oberlippenbarts, dessen Spitze noch über das Kinn reichte. Das alles war schon schaurig genug, doch bei einem Chinesen rote Haare zu sehen, war selbst für Mandra, dem schon viel begegnet war, mehr als ungewöhnlich. Das Haar schien leicht in die Höhe gefönt worden zu sein.
Jede Strähne zeigte eine blutige Farbe, als wären die Glutstrahlen einer untergehenden Äquatorsonne auf die Schädelhälfte gefallen.
Das war die rechte Seite. Die linke sah völlig anders aus.
Sie zeigte eine Vampirfratze!
Nichts Chinesisches mehr, sondern europäische Gesichtszüge.
Grau das Haar, kein roter Schimmer mehr, auch hier eine buschige Augenbraue. Kräftig die Nase, die leicht gebogen aus dem Gesicht hervorsprang. Dann der offenstehende Mund und der lange Vampirhauer, der weit hervorstach. Nach der Unterlippe knickte der Kiefer ein wenig weg, so daß das Kinn scharf hervorspringen konnte.
Die Farbe des Gesichts wirkte wie graue Asche.
Eines jedoch hatten beide Kopfhälften gemeinsam. Die Kälte in den Augen. Eine völlige Gefühllosigkeit, die Mandra sogar trotz des Nebels erkennen konnte.
Er hielt den Atem an. Die beiden Kopfhälften waren so seltsam zusammengewachsen, daß der Eindruck entstand, jemand hätte sie angeklebt.
Vergeblich suchte Mandra den Körper. Eigentlich besaß jedes Wesen einen solchen. War es nun ein Mensch oder ein Dämon. Nur die Körper sahen oftmals verschieden aus.
Hier nicht.
Sollte das Fratzengesicht einen Körper besitzen, so verschwamm er in den violetten Nebelschwaden, die aus der geheimnisvollen Tiefe des Schiffes stiegen und sich allmählich innerhalb des Bordrestaurants ausbreiteten.
Als Mandra Korab seinen ersten Schreck überwunden hatte, fiel seine Hand fast automatisch auf einen der vier Dolchgriffe. Er umklammerte ihn hart.
Sollte der andere ihn anzugreifen versuchen, würde er die Waffe schleudern.
Das geschah nicht. Das Fratzengesicht löste sich plötzlich auf. Der Nebel drang dichter aus der Luke und verschluckte das Gesicht des Dämons.
Mandra Korab stand da und wollte es nicht glauben. Mit der freien Hand wischte er über seine Augen. Es war unmöglich, er hatte sich nicht getäuscht, das Fratzengesicht hatte sich ihm gezeigt, nun war es verschwunden.
Letzte Nebelschwaden, die noch aus der Luke hervorkrochen, bewiesen ihm, daß er keiner Halluzination zum Opfer gefallen war.
Mandra war wieder allein. Er stand dicht hinter der Eingangstür und schaute in den Gang zwischen den beiden Tischreihen. Der Inder hörte sein eigenes Herz laut schlagen, so still war es mittlerweile geworden.
Selbst das leise Klatschen der Wellen gegen die Bordwand blieb für Mandra Korab zurück.
Er wußte natürlich nicht, wohin sich das Fratzengesicht gewandt hatte.
War es geflohen? Wenn ja, weshalb? Oder lauerte es nur in einem anderen Versteck?
Für Mandra waren die folgenden Sekunden angefüllt mit Nachdenken.
Er mußte das Fratzengesicht finden. Und er glaubte daran, daß es das Schiff nicht verlassen hatte.
Aus diesem Grund ging er noch einmal zurück, um sich wiederum außerhalb des Restaurants umzusehen.
Die Schwingtür schleifte an den Planken, als er sie aufstieß. Im Freien war es etwas kühler. Wind fuhr Mandra ins Gesicht. Er brachte den typischen Hafengeruch mit. Der Gestank von Verfaultem mischte sich mit dem Geruch des brackigen Wassers.
Das Deck war leer. Wenigstens der Teil, den Mandra von seinem Standort überblicken konnte. Keine Spur von diesem widerlichen Januskopf, auf den es ihm so ankam.
Er war geflohen!
Mandra grinste scharf, als er daran dachte. Aus der Sicht seines Gegners bestand kein Grund, kurzerhand zu fliehen. Es sei denn, er hatte etwas vor. Einen Plan, den er nicht aufschieben konnte.
Mandra Korab gelangte immer mehr zu der Überzeugung, daß dies tatsächlich so war. Dann hatte er die Möglichkeit, die Brigantine genauer unter die Lupe zu nehmen. Daß mit dieser Dschunke etwas nicht stimmte, war ihm längst klargeworden.
Der Inder zog sich wieder zurück. Er ließ die Türhälfte zurückschwappen und hielt sie noch an, bevor sie mit der anderen auf gleiche Höhe kam. Wieder schritt er in den Gang hinein. Mandra war schwer, die Planken unter ihm bewegten sich. Manche waren nicht so
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