0327 - Wer die Blutfrau lockt
versuchte.
Marenia rief die Telefonseelsorge an und vertraute sich einem Geistlichen an. Der Sprecher am anderen Ende hörte ihr geduldig zu - und verwies sie dann an einen Psychiater.
Sie versuchte, per Telefon mit anderen Herrn der anglikanischen Kirche Kontakt zu bekommen. Alle hörten sich an, was sie zu sagen hatte und erklärten ihr dann mehr als umständlich, daß es keinen Vampirismus gäbe und daß sie sich alles bloß einbildete.
Doch daß dies nicht so war, erkannte Marenia, als sie zufällig ihr Weg an einer Kirche vorbeiführte und der Schatten des Kreuzes auf sie herab fiel. Ihr ganzer Körper war wie in siedendem Feuer gebadet, und niemand begriff, warum diese junge, gutaussehende Frau plötzlich zu taumeln begann und Worte wie »Verflucht! - In Ewigkeit bin ich verflucht!« herauspreßte - um dann einige Yards weiter ihren Weg fortzusetzen, als sei nichts geschehen.
Langsam dämmerte es Marenia, daß sie ihr Schicksal so, wie es war, akzeptieren mußte. Zurück konnte sie nicht. Es war wie bei einem Heroin-Abhängigen, der von der ersten Dosis süchtig wird und erkennt, daß es für ihn keine Rettung mehr gibt. Sie mußte sich auf den neuen Umstand einstellen.
Wie der Süchtige das Rauschgift, benötigte sie Blut, ohne daß sie nicht leben konnte. Und sie beschaffte es sich. Jede Nacht aufs Neue.
Marenia wußte auch, daß die Männer, die ihr hierher in ihre Wohnung folgten und im rasenden Liebestaumel gebissen wurden, ebenfalls zu Vampiren wurden, wenn sie tot waren. Trugen sie noch Leben in sich, dann konnten sie der Polizei verraten, daß sie hier nach den Gesetzen der Menschen Verbrechen verübte. Sie wußte zwar, daß die Menschen vor ihren Taten zurückscheuten - aber sie selbst empfand dabei weder Ekel noch Abscheu. Es war das Leben, das sie jetzt führte - die Welt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, in der sie sich bewegte. Eine Tote zwischen Lebenden, die sie ihren eigenen Gesetzen unterwarf.
Sie hatte eine vorzügliche Lösung gefunden, ihre Opfer von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Manche von ihnen wie Michael Prince waren tot. Das waren die, von denen sie so fasziniert war, daß sie vollständig leergetrunken waren und der Tod eintrat. Andere hatten das Glück, Marenias Kuß zu überleben.
Doch ihnen war ein viel gräßlicheres Schicksal bestimmt…
***
Marenia verließ ihre Wohnung, als London in vollständiger Dunkelheit lag. Sie suchte die nächste U-Bahn-Station auf und fuhr zum Piccadilly-Circus. Schon in der U-Bahn spürte sie die Blicke der Männer auf ihrem Körper ruhen wie heiße Küsse auf nackter Haut. Sie trug eine Steghose aus schwarzem Glanzstoff, eine weit fallende Bluse aus gelbem Satin und eine lässige Jacke aus schwarzem Lackleder. Marenia hatte sich leicht Make-up aufgetragen und dafür gesorgt, daß ihre Vampirblässe nicht zu stark auffiel, die aber auch auf unheimliche Art mit ihrer milchweißen Haut erotisierend wirkte. Leider konnte sie das Ergebnis nie im Spiegel betrachten, was sie als sehr bedauerlich empfand. Aber Vampire haben nun mal kein Spiegelbild.
Sorgsam musterte Marenia die Männer, die sie anstarrten und ihren Blick nicht von ihr wenden konnten. Aber keiner war dabei, der ihr irgendwie gefallen hätte. Marenia war sich ihrer Sache sicher und wußte, daß sie sich ihre Opfer nicht zu jagen brauchte. Sie konnte aussuchen. Die Männer, denen sie einen Wink gab, kamen ohne zu zögern mit und schlugen jede offene oder versteckte Warnung, die ihnen Marenia gab, in den Wind.
Marenia Melford verließ die U-Bahn am Piccadilly-Circus. Sie ging ein kurzes Stück die Regent Street und bog dann ab in die kleinen Straßen und Gassen von Soho. Nichts erinnert mehr an die Räuberromantik der Dreigroschenoper und Macki Messer. Grelle Leuchtreklamen preisen Bars, Cabaret und Massage-Service an. Dazwischen Discotheken und alle Arten von Clubs, kleine Pubs, in denen man zu einer braunen Ale traditionellen Jazz hört, und aus dem Keller von nebenan der Liverpool-Beat der sechziger Jahre fröhliche Auferstehung feiert, sowie Restaurants für jede Geschmacksrichtung. Soho ist Londons Vergnügungsviertel, das für jeden Geschmack etwas bietet. Das immer noch vorhandene Gangstermilieu regelt seine Meinungsverschiedenheiten diskret unter sich, um den internationalen Besucherstrom, von dem letztlich alle hier leben, nicht zu vertreiben. Am Tage ist Soho ungefährlich. In der Nacht sollte man jedoch auf Brieftasche und Wertgegenstände achten. Außerdem
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