0360 - Die Rache des Kopflosen
gehörte zu den jungen Mädchen, die meist übersehen wurden. So schmal, so blaß und auch unscheinbar war sie. Ihr Haar besaß eine fahle blonde Farbe. Es hing strähnig zu beiden Seiten des Kopfes nach unten und ließ das Gesicht noch schmaler erscheinen. Helen hatte ihre Hände in den Schoß gelegt und die Flächen gegeneinander gepreßt. Sheila wollte ihr Trost zusprechen. Sie legte einen Arm um ihre Schulter.
Johnny sagte nichts. Er schaute nur aus großen Augen zu.
»Wie geht es Doug?« fragte Sheila.
Helen hob die Schultern. »Die Ärzte haben mich beruhigt. Es seien nur kleine Wunden. Insgesamt sechs. Er brauchte nicht einmal im Krankenhaus zu bleiben.«
»Dann bin ich beruhigt.«
»Wenn Dougs Vater Gerald kommt, ist es mit der Ruhe vorbei«, sagte Helen Murphy.
»Sie müssen ja eine schreckliche Angst vor diesen Leuten haben.«
»Habe ich auch, Mrs. Conolly. Die sind irgendwie kalt und abweisend. Obwohl ich schon zwei Jahre bei ihnen in Stellung bin, werde ich noch immer wie eine Fremde behandelt, wenn Sie verstehen.«
»Ja, ich begreife das. Wo wohnen die Watsons eigentlich?«
»Momentan bei einer Tante. Kennen Sie nicht den Watson Forest südlich von London?«
»Nein.«
»Das Gebiet gehört der Familie. Die Tante wohnt in dem Haus, und wenn die Familie hier in London zu tun hat, leben sie eben in diesem alten Gemäuer.« Helen schüttelte sich. »Das ist ein richtiges Spukhaus. Mir wurde es mehr als einmal unheimlich.«
»Wieso?«
»Das war meist in der Nacht. Da habe ich hin und wieder Hufgetrappel gehört.«
»Ein Reiter.«
Helen lachte auf. »Dachte ich auch. Aber die Familie wollte davon nichts wissen, wenn ich sie darauf ansprach. Celia Watson, Dougs Mutter, reagierte hysterisch. Es gibt keinen Reiter, hat sie mich angeschrieen. Ich soll mich um andere Dinge kümmern und so weiter. Daß ich überhaupt noch bei ihnen geblieben bin, hängt mit der Arbeitslosigkeit zusammen. Ich sehe keine Chance, eine andere Stellung zu bekommen.«
»Das ist heutzutage schwierig«, gab Sheila ihr recht.
»Mummy, wie lange müssen wir denn noch warten?« meldete sich Johnny, dem es zu langweilig geworden war.
»Gleich ist es vorbei. Wir warten nur noch auf jemand.«
»Auf Dougs Eltern?«
»Ja.«
»Und wann rufst du Dad an?«
»Danach.«
»Weit bis zum Krankenhaus haben sie es nicht«, sagte Helen Murphy. »Eigentlich müßten sie gleich eintreffen.«
»Wir werden sehen.«
In den nächsten Minuten schwiegen die beiden Frauen. Sheila hatte erkannt, daß Helen nicht unbedingt reden wollte, deshalb ließ sie das Kindermädchen auch in Ruhe.
Ihre Gedanken drehten sich um den Vogel, und auch um diesen seltsamen Reiter, den Helen gehört, aber nicht gesehen hatte und dessen Existenz von der Familie bestritten wurde.
Gab es zwischen dem Auftauchen des Vogels und dem Reiter vielleicht einen Zusammenhang? Noch vor Jahren hätte Sheila nicht so gedacht, aber sie kannte mittlerweile Dinge, die die meisten Menschen das Fürchten gelehrt hätten, und so war sie sehr vorsichtig gewesen und lauschte auch auf Zwischentöne, wenn andere erzählten.
Die Doppeltür mit der Milchglasscheibe befand sich links von ihnen. Man konnte nicht hindurchschauen, aber Helen Murphy setzte sich plötzlich aufrecht hin.
»Was haben Sie?«
Helen schaute Sheila an. »Ich sehe ihn noch nicht, aber ich kann ihn hören. Ich erkenne ihn am Schritt.«
»Gerald Watson?«
Helen nickte und rutschte noch mehr auf der Bank zusammen.
Auch Sheila lauschte, und sie fand heraus, daß es zwei Männer waren, die über den Flur schritten.
»Das ist nicht nur einer.«
»Wahrscheinlich bringt er Hicky mit!« flüsterte Helen scharf.
»Was ist das denn für ein lustiger Name?« meldete sich Johnny.
»Der ist nicht lustig, mein Kleiner. Hicky Hancock ist gefährlich. Ein widerlicher Typ. Chauffeur, Diener, Rausschmeißer, Leibwächter, Oberaufseher, der ist alles in einer Person. Auch ehemaliger Söldner, aber unehrenhaft entlassen.«
Da wußte Sheila Bescheid, und einen Augenblick später wurde die Tür regelrecht aufgedonnert.
Zwei Männer standen im Gang.
Sheila mußte zugeben, daß sich Helen nicht getäuscht hatte. Die beiden waren auch ihr von Beginn an unsympathisch.
Sheila wußte sofort, bei welchem der beiden Männer es sich um Gerald Watson handelte. Dafür waren die Ankömmlinge einfach zu unterschiedlich. Mr. Watson hatte die Führung übernommen, der Typ namens Hicky Hancock stand einen Schritt hinter ihm und lauerte darauf,
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