0364 - Mongolenfluch
auf denen Züge standen. Durch die Ölförderung in der Nähe war Ansi zu einer wichtigen Stadt geworden, ebenso wie Yümenschi, die gut hundert Kilometer weit zurück lag.
Su Ling war froh, daß die Fahrt zu Ende war, aber wieder fragte sie sich, was sie eigentlich hier wollte. Was zog sie hierher?
Sie spürte tief in ihrem Innern, daß ihre Reise hier noch nicht einmal beendet war. Aber es ging mit der Bahn nicht mehr weiter. Die Bahnlinie schlug eine andere Richtung ein, die Su von ihrem Ziel fortbringen würde.
Was ist mein Ziel? fragte sie sich. Diese seltsame Stadt, die plötzlich in meinem Wissen aufgetaucht ist, seit ich in diesem Land bin?
Sie hoffte, daß sie sich selbst bald begreifen würde und das, was ohne ihre Kontrolle in ihr vorging. Sie fürchtete, den Verstand zu verlieren. Vielleicht hätte sie nie nach China fliegen sollen. Aber nichts hatte sie gewarnt, und Rob Tendyke, der sie als Dolmetscherin eingestellt hatte, hatte ihr ein fürstliches Gehalt für ihren Dienst gezahlt.
Schließlich stoppte der Zug mit einem letzten Ruck, der Su taumeln ließ. Sie stützte sich an dem Plattformgeländer ab. Fast wäre ihr der Koffer entfallen. Das fehlte ihr noch, daß der auf die Schienen oder den Bahnsteig fiel und aufplatzte!
Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Menschen, die auf den Zug warteten, um mit ihm weiterzufahren. Kleine Handkarren wurden gezogen, auf denen Pakete lagen. Es sah kaum anders aus als auf einem Bahnhof in den Staaten, nur viel altertümlicher. Die aussteigenden Menschen vermischten sich mit denen, die diszipliniert darauf warteten, einsteigen zu können.
Der Wagen, in dem Su Ling gefahren war, blieb davon verschont. Sie war die einzige, die ausstieg. Die Großfamilie reiste noch weiter. Obgleich Su sich bemüht hatte, sich nicht in die Unterhaltungen einbeziehen zu lassen, hatte sie mitbekommen, daß die Familie sich einen Urlaub in der Großstadt Peking geleistet hatte. Einmal im Leben eine große Stadt und das pulsierende Leben darin kennenlernen, noch dazu die Hauptstadt aller Chinesen! Die Fahrt allein mußte schon das ganze Familienvermögen aufgezehrt haben. Aber warum sie alle gleichzeitig gefahren waren, warum sie vom Dorfältesten überhaupt die Erlaubnis erhalten hatten, blieb Su Ling unklar. Es interessierte sie auch nicht.
Sie betrat den Bahnsteig und sah zum Stationsgebäude hinüber, einem unscheinbaren einfachen Steinbau. Das also war der Bahnhof von Ansi.
Wie komme ich von hier aus weiter? Mein Ziel ist noch fern…
Plötzlich warnte sie etwas.
Aber was?
Gehetzt sah sie sich um. Der Impuls war derselbe wie vor zwei Tagen im Speiselokal in Peking. Ihr drohte Gefahr!
Aber von wem? Wer aus der großen Menge der Menschen griff sie an?
Da flirrte etwas durch die Luft auf sie zu. Sie duckte sich, stürzte auf den Bahnsteig. Ein paar Menschen sahen überrascht zu ihr herüber. Das Etwas schlug gegen die Waggonwand. Löste sich dort einfach auf. Su sprang wieder auf. Sie sah zwei untersetzte Männer sich durch die Menge auf sie zuschieben. Ein dritter tauchte plötzlich zwischen zwei Eisenbahnwagen auf und hatte auch Su Ling zum Ziel.
Sie raffte sich wieder auf und begann zu laufen. Ihr Koffer behinderte sie.
Die Menschen auf dem Bahnsteig wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Sie sahen ein Mädchen, das von drei Männern verfolgt wurde. Warum? War sie eine Verbrecherin, und die drei Männer Polizisten? Alles war möglich.
Su erreichte das Stationsgebäude und stürmte in die fast leere Wartehalle. Als sie sie auf der anderen Seite durch die zweite große Tür wieder verlassen wollte, trat ihr ein Mann entgegen.
Ein vierter, der hier gelauert hatte!
Er trat ihr in den Weg und breitete die Arme aus. Sie prallte gegen ihn, stieß mit dem Knie zu. Er krümmte sich zusammen. Da war schon der nächste hinter ihr, sprang sie an und rammte sie mitsamt dem prsten Angreifer zu Boden. Sie schlug und trat um sich, aber die beiden anderen hinzukommenden Männer sorgten dafür, daß sie sich nicht länger wehren konnte.
Und niemand half ihr!
Wartende im Saal sahen entgeistert dem ungleichen, blitzschnellen Kampf zu. Su Ling wollte schreien, aber man hielt ihr den Mund zu. Sie konnte nicht einmal fragen, was die vier Männer mit ihr vorhatten.
Sie zerrten sie nach draußen. Dort standen einige staubige Motorfahrzeuge neben einer Unmenge von Fahrrädern und einigen Fuhrwerken. Die vier Männer zerrten Su auf einen der geländegängigen Wagen zu.
Und plötzlich
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