0364 - Mongolenfluch
Polizei.
Su Ling kauerte an einer Hauswand. Sie wagte es, vorsichtig wieder zu der Stelle zu schauen, an der sich das Grauenhafte abgespielt hatte. Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben war Su Ling dem Tod begegnet, und sie fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.
Der Mann mit dem Schwert war verschwunden.
Die Polizisten redeten auf die Passanten ein, und diese auf die Polizisten. Aus dem gegenüberliegenden Hotel kam jemand und schien eine wichtige Aussage machen zu wollen. Jemand zeigte in die Richtung, in die Su Ling geflohen war.
Sie verschwand blitzschnell in den Schatten.
Ein Polizist setzte sich in Bewegung, näherte sich ihr. Su Ling begann wieder zu laufen. Sie wußte, daß sie sich nicht richtig verhielt. Sie mußte doch hierbleiben und ihre Aussage machen. Aber irgendwie fühlte sie, daß sie es nicht konnte. Daß sie dem Mann mit dem Schwert besser half, wenn sie untertauchte.
Und - daß sie selbst sich damit besser half…
Erst, als sie gut einen Kilometer und mehrere Straßenkreuzungen zwischen sich und den Bahnhof gebracht hatte und in der Menschenmenge des mittäglichen Ansi verschwunden war, hielt sie inne. Kaum jemand beachtete sie. Ansi war eine verhältnismäßig große Stadt. Zwar bei weitem nicht zu vergleichen mit Peking, Los Angeles oder San Francisco, aber immerhin groß genug, daß der eine am anderen vorbei ging, ohne ihm Beachtung zu schenken.
Kein Verfolger war mehr hinter ihr her. Weder ein Polizist noch…
Sie schluckte.
Warum hatten diese fremden Männer sie angegriffen? Was wollten sie von ihr? Sie entführen?
Aus demselben Grund, aus dem jener andere in Peking in dem Speiselokal aufgetaucht war!
Aber was war der Grund?
Sie begriff das alles nicht. Sie begriff nur, daß da jemand förmlich aus dem Nichts gekommen und ihre Entführer erschlagen hatte. Das war alles. Ein Mann, der ihren Namen kannte. Von dem sie aber nicht wußte, wer er war.
Weiß ich es wirklich nicht ? fragte sie sich. Sie versuchte sich an sein Gesicht zu erinnern und an die Art, wie er sich bewegte. Er war ungeheuer schnell gewesen, schneller als früher…
Schneller als früher … ?
»Woher weiß ich, wie schnell er früher war? Woher kenne ich ihn? Wer ist dieser Mann?«
Konnte er etwas mit dem anderen Phänomen zu tun haben? Mit der Ruinenstadt, die plötzlich in ihrer Erinnerung aufgetaucht war?
Sie mußte dorthin, unbedingt.
»Vielleicht«, flüsterte sie. »Vielleicht treffe ich diesen Mann dort wieder… und erfahre endlich, wer er ist.«
Sie kannte ihn!
***
Der Hubschrauber erreichte Ansi nur etwas mehr als eine Stunde später. Die Maschine landete auf dem Gelände der Ölförderfirma.
»Wir sehen uns ein wenig in der Stadt um«, beschloß Zamorra. »Bitte, halten Sie sich zur Verfügung, Frau Ti-Lai.«
Die Pilotin nickte. Sie wurde dafür bezahlt, daß sie den Hubschrauber flog, und auch wenn sie Stunden unterwegs gewesen waren, machte ihr das nichts aus. Sie würde warten. Sie nutzte die Zeit, um die Maschine wieder auftanken zu lassen. Wahrscheinlich wollten die Fremden später einen Rundflug über das Gelände machen…
Tendyke schaffte es, daß ihnen ein Firmenwagen leihweise zur Verfügung gestellt wurde. Es war zwei Uhr nachmittags, als der Jeep in halsbrecherischer Geschwindigkeit Ansi erreichte.
»Uff«, machte Zamorra. »Die Stadt ist größer, als ich dachte.«
Im Hubschrauber waren sie in weitem Bogen an Ansi vorbei geflogen. Aus der Luft hatte die Stadt nicht so groß gewirkt wie jetzt vom Boden aus. Zamorra hatte automatisch angenommen, daß eine Ortschaft in dieser abgelegenen Einsamkeit, vielleicht hundert Kilometer von der Grenze zur Mongolei entfernt, nur wenig bevölkert war. Ein paar Häuser, ein Tempel…
Aber hier erhoben sich ein paar Häuser und Tempel mehr.
»Und hier wollen wir nach der Ruinenstadt fragen?« Nicole schüttelte den Kopf. »Das ist doch kein kleines Nomadenzeltdorf. Die Leute, die hier wohnen, leben etwas moderner. Ich glaube nicht, daß sie jemals etwas von Su Lings Ruinen gehört haben.«
»Wir fahren zum Bahnhof«, entschied Zamorra. »Dort gibt es Reisende, und Reisende hören viel.«
Dem Bahnhof gegenüber stand das Hotel. Vor der Hausfront stoppte Tendyke den Geländewagen. »Es könnte sich als nützlich erweisen, uns hier einzuquartieren«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht bleiben wir über Nacht. Und in der Firma werden wir nicht nächtigen können.«
»Wollen wir nicht mit dem Hubschrauber weiter?«
»Nur wenn wir erfahren, wo
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