037 - Klinik der Verlorenen
Fehler der Vergangenheit zu verzeihen?«
Ich sah ihn an.
»Und was wird aus Ihrer Frau?«
»Sie hat nicht mehr lange zu leben, im äußersten Fall drei Monate. Ich kann nicht mehr tun, als ihr die letzte Zeit so leicht wie möglich zu machen. Ich habe alles versucht, um sie zu retten, Lise. Ich habe sogar Sarlieff bestohlen, um ihr den Aufenthalt in einer Luxusklinik zu ermöglichen. Aber habe ich jetzt nicht auch das Recht zu leben? Sagen Sie mir, Lise: lieben Sie mich so sehr, wie ich Sie liebe?«
Ich nickte.
Ariane erschien und erinnerte uns daran, daß es Zeit war, wieder in die Klinik zurückzufahren.
»Es ist fast vier Uhr, Herr Doktor«, sagte sie. »Die Kranken sollen bald ihre Spritzen bekommen, und Setonis Präparat verträgt keine Unregelmäßigkeiten in der Verabreichung.« Sie sah uns an und lächelte. »Lise, morgen fangen Sie mit Ihrer Arbeit an. Heute zeige ich Ihnen, wie alles bei uns läuft. Können Sie Maschine schreiben?«
»Ein wenig. Mir fehlt die Übung.«
»Na, es wird schon gehen. Kommen Sie.«
Eric verabschiedete sich vom Professor und von Maria.
»Ich fahre schon voraus«, rief Ariane beim Hinausgehen. »Sie können mit dem Herrn Doktor fahren, Lise.«
Sie hatte bemerkt, daß Eric mich liebte und daß ich sein Gefühl erwiderte. Ich stieg in Erics Wagen ein. Eric mußte sofort in die große Klinik eilen, um sich dort um die Kranken zu kümmern, während Ariane und Eliane uns die Spritzen mit dem Gegenmittel Setonis gaben. Ich bekam die erste Injektion und wartete auf Ariane, damit sie mich in meine Pflichten einführen konnte.
Unser Zimmer war normal geworden. Es war nicht mehr verboten, aufzustehen, herumzugehen und zu sprechen. Es herrschte eine heitere, zuversichtliche Atmosphäre. Die Gitter vor den Fenstern waren entfernt worden.
Ariane ging voraus. Am anderen Ende des Korridors ging sie durch eine Tür in ein helles Büro. Durch ein großes Fenster fiel der Sonnenschein in den Raum.
Innerhalb von zehn Minuten hatte ich verstanden, was ich zu tun hatte. Es war eine einfache und angenehme Arbeit.
Ich wußte, daß ich mich glücklich schätzen konnte. Ich war auf dem Weg der Besserung, hatte eine schöne Arbeit gefunden und durfte in der Nähe des Mannes sein, der mich liebte und den ich liebte. Aber trotzdem: Meine Angst war immer noch da.
Ich teilte nicht die Zuversicht der anderen. Das Vertrauen, das Eric in Dr. Setonis Gegenmittel setzte, schien mir nichts als eine neue Illusion. Nichts würde unsere Verwandlung in Kinder, in Babys aufhalten … Und ich war überzeugt davon, daß es noch einige Schuhschachteln mit winzigen, kaum erkennbaren Leichen geben würde …
Ich erwachte mit einem bitteren Geschmack im Mund.
Um mich her schien alles plötzlich viel größer. Die offenen Fenster ließen die Sonnenstrahlen eintreten, der Himmel draußen war wolkenlos. Die Bäume hatten sich zartgrün gefärbt. Bald würde Sommer sein.
Wo würde ich dann sein? Begraben in einem winzigen Sarg?
Ich versuchte aufzustehen, aber die Gliedmaßen taten mir sehr weh.
Eliane trat mit dem Frühstück durch die Tür. Verwirrt blieb sie bei mir stehen und starrte mich an.
Ich zitterte. Das, was ich gefürchtet, gefühlt und vorausgesehen hatte, war eingetreten.
»Geht es Ihnen auch gut, Lise?« fragte sie zweifelnd.
»Ja, warum?« Meine Stimme klang höher als sonst.
»Ich gebe Ihnen sofort Ihr Frühstück.«
»Aber ich kann doch aufstehen und mit den anderen am Tisch essen.«
»Bleiben Sie noch ein bißchen liegen, Sie haben noch genug Zeit.«
Sie vergaß offenbar, daß ich seit gestern einen Beruf hatte. Aber ich hatte schon begriffen, als ich meine winzigen Hände betrachtete. Meine Arme waren die eines zehnjährigen Mädchens. Als ich ein Bein unter der Decke hervorstreckte, sah ich, daß es beträchtlich kürzer und dünner als am Vortag war.
Es war soweit. Ich war auf dem gleichen Weg, den vor mir Rosy, Elisabeth und Henriette, Dominique und Jeanne beschritten hatten.
Eliane und Sidonie standen entsetzt am Fußende meines Bettes.
Ich kletterte von meinem Bett. Meine Stirn reichte bis an die obere Querstange des Kopfteils meines Bettes. Schweigend sah Clarice mich an. Sie hatte sich nicht mehr verändert.
Ich rannte bis vor die Glastür, und als ich das kleine, magere Mädchen erblickte, das sich darin spiegelte, stieg mir ein verzweifeltes Schluchzen in die Kehle.
Das sollte die Frau sein, die Eric liebte!
Eliane und Sidonie traten zu mir, hoben mich auf und
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