038 - Verbotene Sehnsucht
ihn bei den Schultern und grub ihre Fingernägel in seinen Rock. Hätte sie bloße Haut zu fassen bekommen, würde sie ihn gekratzt haben, ihn mit all ihrer wütenden Verzweiflung gezeichnet haben. Sie keuchte und war den Tränen nah, ihre Zähne stießen wenig elegant an die seinen. Ihr Kuss war weder zärtlich noch raffiniert. Er war Ausdruck ihrer Lust und ihres Zorns.
Sie konnte seine Haut riechen. An ihm waren weder Puder noch Parfüm oder Pomade - sie roch nur ihn, und der Geruch brachte sie um den Verstand. Sie wollte ihm den Rock von den Schultern zerren, ihm Hemd und Halstuch zerreißen und ihre Nase an seinem bloßen Hals vergraben. Ihr Verlangen war animalisch und unbeherrscht, und das war es, was sie schließlich innehalten ließ. Sie wich zurück und stellte fest, dass er sie fast nachdenklich betrachtete. Seine Augen blickten weitaus ruhiger, als ihr zumute war.
Zum Teufel mit ihm! Wie konnte er es wagen, nicht ebenso aufgewühlt zu sein wie sie?
Er musste in ihren Augen gesehen haben, wie verärgert sie war. Seine Mundwinkel hoben sich, wenngleich nicht zu einem Lächeln. „Das machen Sie absichtlich", stellte er fest.
„Was?", stieß sie hervor und war nun wirklich verwirrt.
Noch immer betrachtete er sie. „Sie streiten mit mir, bringen mich gegen sich auf, bis ich es nicht länger ertragen kann und Sie küsse."
„Sie lassen es so klingen, als würde ich es darauf anlegen, von Ihnen geküsst zu werden." Wütend stieß sie an seine Arme, doch er ließ sie nicht los.
„Tun Sie das denn nicht?"
„Natürlich nicht."
„Ich glaube schon", flüsterte er. „Ich glaube, Sie haben das Gefühl, meine Berührung nur dann zulassen zu können, wenn ich sie Ihnen aufdränge."
„Das ist überhaupt nicht wahr!"
„Dann beweise es mir", murmelte er und neigte sich ihr abermals zu. „Zieh deine Krallen ein, und küss mich."
Sacht streiften seine Lippen die ihren in einer fast schon ehrfürchtigen Liebkosung.
Als sie keuchend nach Atem rang, öffnete er seinen Mund über dem ihren und küsste sie. Voller Hingabe. Liebevoll. In einem solchen Kuss könnte sie ertrinken. Ein sol-eher Kuss war viel gefährlicher als ihre beinah schon gewalttätige Rangelei zuvor.
Dieser Kuss zeugte von Sehnsucht, von tiefer Begierde. Der Gedanke - schon allein die Möglichkeit -, dass dieser Mann sie so sehr begehren könnte, ließ sie erbeben.
Und noch mehr die Erkenntnis, dass sie ihn ebenso begehrte. Sie sollte es nicht tun, das wusste sie, und doch erwiderte sie seinen Kuss, drängte ihren Mund an den seinen. Sie küsste Samuel, sie hauchte all ihr aussichtsloses Begehren diesem einen Kuss ein. Wenn sie doch nur ...
Plötzlich hob er den Kopf, und sie schlug benommen die Augen auf, vermisste seinen Mund schon jetzt.
Er schaute über ihre Schulter. „Die von Lady Hasselthorpe ausgeschickten Diener sind im Anmarsch. Geht es wieder?"
„Ja." Ihre Hände zitterten, aber sie verbarg sie in ihren Röcken und setzte eine gelangweilte Miene auf, ehe sie sich umdrehte. Tatsächlich mühten sich zwei Diener die kleine Anhöhe hinauf, zwischen sich einen Korb mit Weinflaschen. Besonders interessiert schauten sie nicht, weshalb ihnen die leidenschaftliche Umarmung vielleicht entgangen war.
„Darf ich Ihnen meinen Arm reichen?"
Sie legte ihre Hand in seine Armbeuge und versuchte ihre aufgewühlten Sinne zu beruhigen. Seit wann war sie so unbeherrscht und impulsiv? Die Wirkung, die Samuel Hartley auf sie hatte, wurde keineswegs von ihr geschätzt. Fast schien es, als risse er ihr den hauchdünnen Schleier der Zivilisation vom Leib und lasse sie nackt und bloß zurück, ein wildes, unkultiviertes Geschöpf, das nur noch aus Gefühlen und Empfindungen bestand, sich ungeschützt zu seinen Füßen kauerte und ihre niedersten Instinkte nicht mehr im Griff hatte. Sie sollte ihn stehen lassen und so schnell wie möglich das Weite suchen. Ihr altes Selbst wollte sie wiederfinden, ihre blank liegenden Nerven mit den vertrauten Ritualen der eleganten Gesellschaft beschwichtigen.
Doch stattdessen ging sie neben ihm, ihre Hand auf seinem Arm, und als er ihr einen triumphierenden Blick zuwarf, hatte sie das Gefühl, unwiderruflich etwas aufgegeben zu haben.
Wenngleich Lady Emelines Berührung zögerlich kam, so beruhigte sie ihn dennoch, ebenso wie der sanfte Hauch von Zitronenmelisse, der bei jedem ihrer Schritte sein Gesicht streifte. Einen Moment schloss Samuel die Augen und versuchte, sich wieder zu fassen, ehe die Diener sie
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