0386 - Götzentanz im Märchenpark
fing das geweihte Silbergeschoß auf wie ein Angler den Fisch mit seinem ausgeworfenen Netz.
Nichts war mehr von dem Geschoß zu sehen.
Samaran hatte seinen Spaß. »Willst du noch einmal feuern, Sinclair? Los, schieß alle Kugeln raus! Ich bitte dich sogar darum.« Es waren vorerst seine letzten Worte, die er mir entgegenschleuderte, denn als ich startete, lief auch er.
Samaran war schneller. Ich erreichte die Kurve, in der er gestanden hatte, und sah ihn nicht mehr. Dafür die nach oben führende Steintreppe, die vor einer Tür endete.
Marsha kam zu mir gelaufen. Sie atmete heftig. »Meine Güte«, sagte sie. »Das ging gerade noch einmal gut. Was wäre geschehen, wenn Sie den Würfel nicht gehabt hätten?«
Ich stand schon auf den ersten Stufen. »Dann wären wir wahrscheinlich tot. So einfach ist das. Dieser Mensch kennt kein Pardon.«
Eine graue Eisentür versperrte mir den Weg. Über ihr hing eine nach unten gebogene Lampe. Die Tür war offen.
Ich schaute auf die Rückwand einer fahrbaren Toilettenanlage und sah auch die zahlreichen Menschen, die über einen in der Nähe verlaufenden Weg schritten.
Keine Chance mehr, Samaran zu finden.
Aufatmend traten wir ins Freie. Dieses Grottenabenteuer hatten wir gut überstanden. Es war auch vorteilhaft gewesen, daß wir nicht weitergefahren waren. Schlimmes hätte mit uns und den Menschen im Zug noch passieren können.
Erschöpft lehnte sich Marsha gegen einen Baumstamm. Das Gesicht und ihre Kleidung zeigten Schweißflecken. Sie strich sich die Haare zurück. »Hätte nie gedacht, daß es so anstrengend ist, mit Ihnen unterwegs zu sein. Ich kann mir vorstellen, daß Sie Junggeselle bleiben wollen. Die Frau an Ihrer Seite hätte es nicht einfach.«
»Das stimmt.«
»Und jetzt zum Tempel?« fragte sie.
»Ja.«
»Wissen Sie schon, was Sie dort wollen?«
Ich nickte. »Das Finale einläuten und Baby de Valois befreien…«
***
Sie war blond, noch ziemlich jung, hatte in ihrer Kindheit einige trübe Jahre erlebt, doch in der letzten Zeit hatte sie durch ihren Mann erfahren, was es heißt, in Luxus regelrecht zu baden.
Um so tiefer war ihr der Sturz vorgekommen.
Baby de Valois, die eigentlich Rita mit Vornamen hieß, verzweifelte fast an Gott und der Welt.
Man hatte sie regelrecht eingekerkert und angekettet. Dieser Hüne mit der Killervisage und dem als Pferdeschwanz gebundenen Haaren war über sie hergefallen. Er hatte ihr die Kleider vom Leib gefetzt und hätte ihr sicherlich etwas angetan, wenn der Mann mit dem Würfel nicht dazwischengekommen wäre.
Er konnte den anderen zurückhalten. Dafür hatte er sie auch höchstpersönlich an die Mauer gekettet, so daß sie sich vorkam wie eine Gefangene in einem mittelalterlichen Verlies. Aus alten Lumpen hatte man ihr einen Lendenschurz gebunden, damit sie nicht völlig bloß war, und danach war fotografiert worden.
»Für deinen Alten!« hatte der Mann mit dem Würfel lachend gesagt. Sie kannte von ihm nur den Vornamen Akim, mehr nicht.
Die Männer waren gegangen. Baby de Valois blieb allein mit ihren Gedanken, ihrer Angst und der Verzweiflung.
Sie wußte, daß sie von ihrem Mann geliebt wurde, daß er alles tun würde, um sie aus diesem menschenunwürdigen Gefängnis zu befreien. Dabei befand sie sich gar nicht mal weit von ihm entfernt.
Sogar noch in Adventure World, in einem Raum, wo Kulissen aufbewahrt wurden. Nur kam hier kaum jemand hinein, höchstens bei miesem Wetter oder wenn etwas ausgebessert werden mußte.
Wann passierte das schon mal?
Im Sommer nie. Bis sie hier entdeckt wurde, konnte sie schon längst verhungert sein.
Einmal war Samaran gekommen und hatte ihr etwas zu trinken gebracht. Wie er die Schale mit dem kalten Wasser an ihre Lippen gehalten hatte, war für sie abermals entwürdigend gewesen, aber sie hatte getrunken. Der Durst war stärker als ihr Stolz.
Nun vegetierte sie dahin. Angekettet wie eine alte Hexe, die kurz vor dem Transport zum Scheiterhaufen steht. Draußen schien heiß die Florida-Sonne. Sie brannte auch auf das Dach ihres Gefängnisses, und Baby de Valois spürte, daß die Luft sich immer stärker aufheizte und schlechter wurde.
Zum Glück ließen ihr die Ketten so viel Spielraum, daß sie sich auch hinsetzen konnte. Vom langen Stehen wurden ihre Beine schwer, sie selbst verlor dabei immer mehr Kraft, und die Angst saß wie ein dicker Druck in ihrem Magen.
Manchmal hatte sie auch geweint. Um Hilfe konnte sie nicht schreien. Die Kehle war einfach zu rauh geworden.
Weitere Kostenlose Bücher