039 - Der schwarze Abt
draußen ein Teller zu Boden fiel.
»Ich kann nichts dafür, Leslie«, entschuldigte sie sich. »Dieses Haus jagt mir einen Schauder nach dem andern über den Rücken. Wenn es mir nicht widerstrebte, Sie ohne Gesellschaft zu lassen, wäre ich längst auf und davon nach London!« Und der Aufenthalt in der ihr so vertrauten Bibliothek, vor Harrys leerem Platz, schien ihr den Rest gegeben zu haben. »Oh, Leslie, Sie dürfen mich nicht mehr so lange allein lassen. Der arme Harry! Ein ausgezeichneter Mensch - ich habe nie verstehen können, warum er Mr. Alford haßte.«
Leslie Gine blickte Mary ungläubig an.
»Haßte -? Nein, da irren Sie sich bestimmt.«
»Das weiß ich besser, Leslie! Und alles wegen Lady Alfords Bild . Vor drei Jahren etwa regte Dick Alford eines Tages an, das Bild in der Galerie aufzuhängen. Was ihn auf diese Idee brachte, mag der Himmel wissen, doch ist sie um so mehr zu verurteilen, als ihm bekannt war, wie sehr Harry seine Mutter vergötterte. Als er sich dann noch zu dem Ausspruch verstieg, das Bild wirke ›niederdrückend‹, geriet Harry außer sich, sprang von seinem Sessel auf und schleuderte Mr. Alford trotz meiner Anwesenheit schreckliche Dinge ins Gesicht. Vierzehn Tage lang wechselten die Brüder keine Silbe miteinander.«
Leslie blieb stumm. Solche Hintergründe und Konflikte hatte sie auf Fossaway nicht vermutet.
37
»Darf ich das Licht brennen lassen, Leslie?« bat Mary, als sie ihre Schlafzimmer aufgesucht hatten.
»Natürlich, wenn es Sie beruhigt.«
Fossaway bezog den elektrischen Strom von einer eigenen Kraftstation, die sich in einem zwischen Schloß und Ravensrill gelegenen Schuppen befand und der Initiative Dick Alfords ihr Dasein verdankte.
Lord Alford verwendete nach wie vor Kerzen in seinem Zimmer, und der elektrischen Beleuchtung in der Bibliothek hatte er erst nach langem Hin und Her zugestimmt.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie Harry sich vor dem elektrischen Strom fürchtete!« berichtete Mary. »Bei Gewittern stieg er stets in den Keller hinab, und im Sommer ließ er sich dort unten sogar ein Bett aufschlagen, um auch in der Nacht ...«
In diesem Augenblick erlosch das Licht.
»Haben Sie das Licht abgedreht?« fragte Mary Wenner ängstlich.
»Nein. Wahrscheinlich ein Kurzschluß.« Leslie tastete sich im Dunklen zum Toilettentisch, wo zwei Kerzen standen. Als das Kerzenlicht aufflackerte, sah sie, daß Mary, blaß, mit aufgerissenen Augen, am Türrahmen lehnte.
»Um Gottes willen, was bedeutet das?«
Leslie zwang sich zu einem Lächeln, obgleich auch sie sich nicht allzu sicher fühlte.
»So etwas kommt doch im besten Haushalt einmal vor«, bemühte sie sich, ihre Gefährtin zu beschwichtigen. »Und da die Korridortüre verschlossen ist, brauchen Sie keine Angst zu haben.«
Ein Klopfen an der Tür. Dann Dicks Stimme:
»Leslie, regen Sie sich nicht auf - eine kleine Störung, die in zwei Minuten behoben ist.«
Zwanzig Minuten später meldete er sich von neuem.
»Leider wird die Reparatur doch wohl die ganze Nacht in Anspruch nehmen. Hat Glover für Kerzen und Streichhölzer in Ihren Zimmern gesorgt?«
»Danke!« rief Leslie durch die Tür. »Wir haben alles, was wir brauchen, und in zehn Minuten werden wir fest schlafen.«
»Ich bestimmt nicht«, murmelte Mary Wenner. »Nicht ein Auge werde ich schließen.«
Im Schein ihrer Kerze legte sie die Kleider, die sie aufgerafft hatte, als das Licht erlosch, wieder über den Stuhl.
Kurz darauf pochte es nochmals an der Tür.
»Leslie! Puttler hat bestimmt, daß einer von seinen Leuten vor Ihrer Tür Wache halten soll. Beunruhigen Sie sich also nicht, wenn Sie ihn nachts auf und ab gehen hören sollten.«
»Warum das, Dick?«
»Nur, weil Miss Wenner so übernervös ist und sich durch diese Maßnahme ruhiger fühlen wird. Und bitte, schlafen Sie nicht bei offenen Fenstern! Gute Nacht.«
Er ging, und Mary Wenner blickte mit tragischer Feierlichkeit Leslie an.
»»Schlafen Sie nicht bei offenen Fenstern‹ hat er gesagt! Das bedeutet nichts Gutes!«
Sie schlossen den noch offenstehenden Flügel, als Mary auf einmal aufkreischte.
»O Gott, unter meinem Bett liegt ein Mann!«
Mit wild schlagendem Herzen hob Leslie die fast bis zum Boden überhängende Decke hoch und zog ein Paar dort vergessene Reitstiefel hervor. Sie lachten beide, aber es klang ziemlich nervös.
»Ich wollte, ich könnte mein Bett in Ihr Zimmer schieben!« Hilflos betrachtete Mary die schwere Bettstatt, über der sich ein
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