039 - Vor der Tür stand Frankenstein
besten hier an der Zelle. Oder nein, die ist beleuchtet, man könnte
mich sehen. Kennen Sie die alte Mühle, die keine fünfhundert Meter von hier
entfernt steht?«
»Natürlich.«
»Dort erwarte ich Sie!«
»Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen, Nicole.«
Maurice Lucells Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Er nahm die Pistole
aus der Lade seines Schreibtisches, vergewisserte sich, ob sie geladen war und
steckte sie dann langsam in seine Jackentasche.
●
X-RAY-3 hatte das Gefühl, von einem Watteberg umgeben zu sein. Sein Kopf
dröhnte, und es fiel ihm schwer, die Augen zu öffnen..
»Wo bin ich?« Nur mühsam formulierte er die Worte. Eine ungekannte Schwäche
hatte von ihm Besitz ergriffen. Doch gleichzeitig registrierte sein
Unterbewusstsein auch, dass diese allmählich nachließ.
»In meiner Wohnung, wo sonst, Süßer?«, antwortete eine weibliche Stimme. Er
erkannte sie sofort wieder.
»Blanche?«, fragte er irritiert.
»Ja, ich bin es.« Sie trug nur ein hauchdünnes Negligé. Benommen schüttelte
er den Kopf. »Wie komme ich in Ihre Wohnung?«
Sie lachte. »Sie sind selbst heraufgekommen, Larry.«
Zwischen seinen Augen entstand eine steile Falte. Es bereitete ihm Mühe,
sich alles wieder zusammenzureimen. »Wir wurden überfallen«, sagte er langsam.
Blanche nickte. »Unten im Flur«, hauchte sie. Ein gezwungenes Lächeln stahl
sich auf ihre schimmernden, feuchten Lippen. Mit einer zitternden Handbewegung
strich sie die langen, seidig glänzenden Haare aus dem feingeschnittenen
Gesicht. Larry sah den verkrusteten Kratzer auf ihrem Unterarm und erinnerte
sich, dass auch Blanche die Treppe herabgestürzt war.
»Haben Sie sie erkannt? Können Sie sie beschreiben, Blanche?« Sie
schüttelte den Kopf. »Dazu war es zu dunkel.«
»Mein Gepäck«, murmelte Larry.
»Es kam ihnen darauf an, es in die Hände zu bekommen. Auch Sie hat man
untersucht, aber offensichtlich nichts gefunden.«
Larry tastet nach dem Holster. Es war weg. »Ich kann mich nicht daran
erinnern, wie ich in Ihre Wohnung kam ...«
»Das ist nicht verwunderlich. Sie haben dagelegen wie ein Toter. Taumelnd
kamen Sie schließlich auf die Füße. Als Sie in meiner Wohnung waren, schafften
Sie es noch bis hierher zum Diwan, dann brachen Sie zusammen. Sie waren eine
gute Stunde besinnungslos.«
Larry erfuhr, dass es gleich Mitternacht war, und dass Blanche mit dem Gedanken
gespielt hatte, die Polizei und einen Arzt zu benachrichtigen.
»Aber ich wusste nicht, wie ich recht tat. Sie sind, wie ich gleich von
Anfang an vermutete, von einem Geheimnis umgeben!« Das hübsche Model musterte
ihn eingehend.
»Sie haben sich tapfer gehalten, Blanche. Vielen Dank! Nun bin ich doch
noch zu Ihnen hereingeschneit, ohne es zu wollen, und mein Zug ist weg.«
»Der nächste Zug fährt morgen früh um 6 Uhr 22.« Sie streichelte seinen
mitgenommenen Schädel. »Ich freue mich, dass es Ihnen wieder besser geht,
Larry!«
X-RAY-3 verzog die Lippen zu einem Lächeln. Larry Brent fühlte, dass ihn
die Nähe dieser Frau reizte. Sein Gesicht näherte sich ihrem und seine Lippen
pressten sich auf ihren Mund. Sie erwiderte seinen Kuss. Doch Larry war nicht
bei der Sache. Verzweifelt dachte er über die Umstände nach, die die Situation
so für ihn verändert hatten. Manches glaubte er zu verstehen, während ihm
anderes völlig entfallen war. Ständig bohrte da eine Frage, ein Gefühl in
seinem Unterbewusstsein verlangte nach Aufklärung – doch vergebens.
Sein Blut erstarrte, als er begriff, was das bedeutete. Er hatte das
Gedächtnis verloren.
●
Maurice Lucell passierte den Ortsausgang und parkte seinen Wagen etwa
fünfzig Schritte von dem Telefonhäuschen entfernt. Er stieg aus und blickte
zwischen vereinzelt stehenden Kiefern und Birken hindurch den Weg entlang, der
zu der alten, verfallenen Mühle führte. Sie stammte noch aus dem 17.
Jahrhundert. Bis vor etwa zehn Jahren diente das im Fachwerkstil errichtete
Haus und das massive Mühlengebäude, neben dem ein gurgelnder Bach floss, noch
als Ausflugsziel und Restaurant. Dann waren die beiden alten Leute, denen das Anwesen
gehörte, plötzlich kurz hintereinander gestorben. Der missratene Sohn, ein
Lebemann, der das sauer verdiente Geld seiner Eltern durchbrachte, zeigte kein
Interesse daran, den Betrieb fortzuführen. Er reiste in der Weltgeschichte
herum, leistete sich schöne Frauen, Abenteuer und Glücksspiele. Seit dieser
Zeit verfiel das Anwesen immer mehr.
Der Kommissar hielt
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