0396 - Wer erstach Jerry Cotton?
nacht gestorben ist.«
»Es gibt nur eine Schwester, mit der wir reden könnten. Aber ich verstehe nicht, was Sie sich davon versprechen. Sie war doch nicht dabei.«
»Das muß sie mir erst einmal selber sagen«, beharrte Phil eigensinnig. »Sie gehen dauernd von Vermutungen aus, Snyder, die noch nicht bewiesen sind. Dabei kann es böse Überraschungen geben.«
»Ich geb’s auf«, stöhnte der Polizeichef und fuhr in sein Uniformjackett. »Ihr Burschen vom FBI würdet, glaube ich, die Hand in ein Feuer legen, bevor ihr zugebt, daß es darin heiß ist.«
»So ungefähr«, gab Phil nickend zu und vertiefte sich wieder in das kleine Notizbuch, das man in Fullers Brusttasche gefunden hatte. Mit routinierter Gründlichkeit ging er Seite für Seite durch, las die handschriftlichen Eintragungen und blätterte weiter. Dann fragte er Snyder:
»Da ist eine Eintragung, die ich nicht verstehe. Sie steht im Kalender unter dem Datum, das jetzt fünf Tage zurückliegt.«
»Was steht denn da?«
Phil hielt ihm das aufgeschlagene Blatt hin. »Gipsarm. Nur das eine Wort. Aber dahinter drei Ausrufezeichen. Gipsarm! Was, zum Henker, soll das bedeuten?«
»Wissen Sie, Decker, jetzt fangen Sie an, mich nervös zu machen. Ich habe auch einen Notizkalender. Wenn ich mir jetzt vorstelle, jemand blätterte nach meinem Tode darin, dann kann ich Ihnen jetzt schon sagen, daß dieser Jemand siebzig Prozent meiner Notizen rätselhaft finden wird. Wenn ich zum Beispiel für meine Frau ein paar Schuhe mit in die Stadt nehme, um sie wegen neuer Absätze zum Schuster zu bringen, dann notiere ich mir das Wort ›Doppelmörder‹. Unser Schuster hat nämlich vor vielen, vielen Jahren bei einer Treibjagd das unwahrscheinliche Glück gehabt, mit ein und derselben Ladung zwei Hasen zur Strecke zu bringen, und seitdem klebt der scherzhafte Spitzname ›Doppelmörder‹ an ihm. Was glauben Sie, was sich ein G-man wie Sie den Kopf über diese Anmerkung zerbrechen würde, wenn er sie nach meinem Tode in meinem Notizkalender fände.«
»Sicher. Das ist schon richtig. Ich frage ja auch nur, weil -«
»Weil Sie alles genau wissen wollen«, vollendete Snyder und nickte ergeben. »Okay, okay. Kommen Sie jetzt. Vielleicht findet sich im Zuge unserer Ermittlungen auch noch eine Erklärung für den Gipsarm, damit Sie dann auch damit zufrieden sein können.«
Sie verließen die Polizeistation von Lincoln Park. An die merkwürdige Bemerkung »Gipsarm« im Notizbuch des ermordeten Polizisten dachten sie schon bald nicht mehr. Dabei hätte dieses Wort den Schlüssel bedeuten können für die Klärung eines der größten Kapitalverbrechen in der amerikanischen Geschichte.
***
Captain Foreman von den Wachmannschaften des Staatszuchthauses New York rauchte eine seiner langen Virginia-Zigarren, als der Sträfling Mac Lindsay in sein Büro geführt wurde.
Lindsay mochte ungefähr vierzig Jahre alt sein, war verhältnismäßig groß und offenbar in guter körperlicher Verfassung. Er sah nicht unintelligent aus, zerstörte aber diesen vorwiegend positiven Eindruck seines Äußeren durch seine Sprache. Es war ein nuschelndes, schwer verständliches Gebrummel, was er von sich zu geben pflegte, und es war immer reichlich von Flüchen und Kraftausdrücken durchsetzt, so daß sich amtliche Protokollführer jedesmal den Kopf zerbrechen mußten, ob dieses oder jenes Wort nicht einfach zu unterschlagen sei, weil es für ein amtliches Protokoll beim besten Willen nicht mehr tragbar schien.
»Setzen Sie sich, Lindsay«, sagte der Captain und deutete mit der Spitze seiner Zigarre auf den freien Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.
Mac Lindsay nahm Platz. Und er tat es, ohne eine spöttische Bemerkung laut werden zu lassen, wie man es sonst von ihm gewohnt war. Foreman lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, machte einen langen Zug an der Virginia und blies genießerisch den Rauch zur Decke.
»Was ist los, Captain?« fragte der Sträfling. »Warum haben Sie mich holen lassen?«
Sieh an, dachte Foreman. Lindsay kann es nicht abwarten. Er hat sich doch sonst in der Gewalt. Warum ist er diesmal so ungeduldig? Er sieht mich so seltsam an, man könnte fast sagen: erwartungsvoll. Wie ein Kind fünf Minuten vor der weihnachtlichen Bescherung.
Der Captain beugte sich vor.
»Wie lange werden Sie noch bei uns bleiben müssen, Lindsay?« fragte er.
»Drei Jahre, zwei Monate, elf Tage«, nuschelte der Sträfling, ohne eine Sekunde nachrechnen zu müssen.
»Lange Zeit«,
Weitere Kostenlose Bücher