0399 - Totentanz im Urnengrab
und den inzwischen schon fünf Tage alten Bart. Er hatte einfach keinen Bock darauf gehabt, sich zu rasieren. Und die Kleidung hatte er in dieser Zeit auch nicht gewechselt. Als Nahrung hatte er nur Rum und Maisfladen zu sich genommen, und er hatte immer wieder an die Ereignisse im Dschungel denken müssen.
Wenn er besonders viel Rum getrunken hatte, sah er sich wieder in der Baumkrone sitzen und die Kamera vors Auge halten. Daß ihm so etwas überhaupt gelungen war, darüber wunderte er sich heute noch. Vor einigen Wochen hatte er Nerven wie Stahl gehabt.
Er war Zeuge, wie die anderen seine Kollegen töteten. Die Wilden hatten die Männer überwältigt, gefesselt und ihnen einen Trank eingeflößt, an dem sie unter schlimmen Schmerzen gestorben waren.
Nur durch Zufall war Bender ihnen entwischt, und er war in das Dorf zurückgekehrt, um Rache zu nehmen. Nun, er hatte gefilmt, und dabei war es schließlich geblieben.
Auf seiner Flucht nach Rio hatte er dann Zeit gefunden, über sein weiteres Vorgehen nachzudenken. Der ursprüngliche Plan war von ihm verworfen worden. Er hatte seine Mannschaft zusammenstellen wollen, um in den Dschungel zurückzukehren. Da hätte es dann keine Überlebenden mehr gegeben. Aber so etwas wäre aufgefallen.
In der letzten Zeit reagierten die Behörden unter dem andauernden Druck der Öffentlichkeit auf Morde an Indianern besonders sensibel. Wer die brasilianischen Gefängnisse von innen kannte, hatte keine Lust, sie länger als zu einer Besichtigung zu besuchen, das stand fest.
Über seine Landsleute war er enttäuscht. In der Botschaft waren ihm sogar die Papiere abgenommen worden, und so sah er sich gezwungen, so lange in Rio zu bleiben, bis es sich die Herren in den noblen Anzügen anders überlegt hatten.
Al Bender stand auf.
Noch war er nicht so stark betrunken. Nur einen leichten Pegel besaß er, aber das war eigentlich immer so, und darüber brauchte er sich auch keine Gedanken zu machen.
Seine Schritte waren noch ziemlich ruhig und normal, als er sich der Tür näherte. Er wollte nicht auf den schmutzigen Flur, der als lange Loggia gebaut war und außen an dem Gebäude vorbeilief, sondern ins Bad, wo die Flasche stand.
Al riß die Tür auf. Die Klinke hing durch, und er hatte auch kein Interesse daran, sie zu reparieren. Er trat über die Schwelle, blieb rülpsend mitten im Raum stehen, drehte sich um und schaute zunächst in den Spiegel, dessen Fläche so blind war, daß er zwei Schritte näher an sie herangehen mußte, um sich überhaupt darin sehen zu können. Unter dem Spiegel befand sich der Waschtisch.
Gegen den stieß er mit der Gürtelschnalle und schaute sich an.
Er sah zum Weglaufen aus.
Aufgedunsen war die Haut, und sie wurde von roten Äderchen durchzogen. Auch die Augen quollen vor, sie besaßen schon den Blick eines Frosches. Auf dem Kopf wuchsen die verfilzten Haare als eine graue Masse, die wie dichter Draht aussah, weil jede einzelne Strähne vor Schmutz starrte. Bestimmt hatten sich zahlreiche Läuse seinen Kopf als Wohnort ausgesucht.
»Beschissen sehe ich aus!« keuchte er. »Verdammt beschissen.« Er nickte sich noch einmal zu und drehte den Wasserhahn auf. Ein dünnes Rinnsal sickerte hervor. Zudem war es noch rötlich gefärbt und bekam allmählich einen braunen Ton, so daß selbst der nicht gerade verwöhnte und dschungelerfahrene Al Bender davor zurückzuckte. Er beschloß, sich sein Gesicht nicht zu waschen. Die Flasche konnte er auch mit ungewaschenem Gesicht leeren.
Sie stand hinter der Toilette. Direkt neben dem Abfluß. In diese Lücke hatten Spinnen ihre Netze gewebt, so daß es aussah wie ein graues dichtes Band.
Die Flasche hatte nicht viel gekostet. Rum gehörte hier zu den preiswerten Getränken.
Mit der Flasche in der Hand ging er wieder zurück. Das Licht ließ er brennen. Er öffnete die Tür und blieb wie vom Donner erwischt stehen.
Vor ihm stand eine Gestalt des Grauens. Und sie zielte mit einem Pfeil auf seine Brust…
***
Diesmal lernte ich Rio von einer anderen Seite kennen. Wir fuhren dorthin, wo die Menschen lebten, die noch nicht zu den Ärmsten gehörten.
Der Fahrer hieß Pete Ravina und war ein Rio-Kenner. Er sagte mir gleich, daß er unten bleiben würde, weil er auf den Wagen achten mußte. »Wenn der nicht beaufsichtigt wird, montieren diese Burschen alles ab, was nicht niet- und nagelfest ist. Glauben Sie mir, Sir.«
Das konnte ich mir vorstellen. Außerdem mußte er es ja wissen.
Dieser Mann kannte
Weitere Kostenlose Bücher