04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Draigen.
Augenblicklich saß Fidelma aufrecht im Bett und griff nach Feuerstein und Zunder, um das Talglicht anzuzünden.
»Mutter Oberin? Was ist los?«
»Ihr müßt sofort mitkommen.« Draigens Stimme versagte, sie konnte ihre Erregung kaum verbergen.
Fidelma hatte die Kerze angezündet und wandte sich nun der Äbtissin zu.
Die war vollständig angekleidet, und selbst im gelblichen Kerzenschein wirkte ihr Gesicht kreidebleich und schreckverzerrt.
»Ist etwas passiert?« Im gleichen Augenblick wurde Fidelma bewußt, daß ihre Frage überflüssig war. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang sie aus dem Bett. Nun, da sie begriff, daß etwas Furchtbares geschehen war, spürte sie die Kälte nicht mehr. »Was ist passiert?«
Die Äbtissin zitterte am ganzen Körper, allerdings vor Angst und Schrecken und weniger wegen der nächtlichen Kälte. Sie schien unter Schock zu stehen und war nicht in der Lage, eine zusammenhängende Antwort zu geben.
Fidelma warf ihren Umhang über und schlüpfte in ihre Schuhe.
»Geht voraus, Mutter Oberin«, befahl sie ruhig. »Ich folge Euch.«
Die Äbtissin zögerte nur einen Augenblick, dann drehte sie sich um und wandte sich zum Innenhof. Draußen war es fast taghell, denn es war Neuschnee gefallen, der jetzt im Mondlicht leuchtete.
Fidelma blickte zum Himmel und erkannte an der Stellung des Mondes sofort, daß es mehrere Stunden nach Mitternacht war. Bis zur Dämmerung würde es jedoch noch einige Zeit dauern. Die nächtliche Ruhe schien vollkommen. Nur das Knirschen ihrer Lederschuhe auf dem gefrorenen Schnee störte die Stille der Nacht.
Fidelma bemerkte, daß sie die Richtung zum Turm eingeschlagen hatten.
Schweigend folgte sie der Äbtissin, in der einen Hand die Kerze, die andere als Schutz vor einem plötzlichen Windstoß vor die Flamme haltend, doch es war trotz der Kälte so windstill, daß die Flamme kaum flackerte.
Die Äbtissin betrat den Turm. Die Bibliothek lag im Dunkel, doch sie eilte zum Fuß der Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, ohne abzuwarten, bis Fidelma ihr leuchtete. Sie stiegen eilig in den dritten Stock hinauf, in das Skriptorium. Am Fuße des nächsten Treppenabsatzes, von wo man in das Stockwerk mit der Wasseruhr gelangte, bemerkte Fidelma eine erloschene Kerze und einen Kerzenhalter, die auf dem Boden lagen, als hätte sie jemand achtlos weggeworfen. Draigen blieb so plötzlich stehen, daß Fidelma beinahe mit ihr zusammengestoßen wäre. Im Licht der flackernden Kerze wirkte Draigens Gesicht gespenstisch, doch allmählich schien sie ihre Fassung wiederzugewinnen.
»Ihr solltet Euch wappnen, Schwester. Der Anblick, der Euch bevorsteht, ist alles andere als angenehm.« Das waren die ersten Worte, die Draigen von sich gab, seit sie Fidelma aus dem Schlaf gerissen hatte.
Ohne weitere Erklärung drehte sie sich um und erklomm die Stufen.
Fidelma schwieg. Sie spürte, daß es nichts zu sagen gab, bevor sie die Bedeutung dieses nächtlichen Ausflugs nicht kannte.
Sie folgte der Äbtissin in den Raum mit der Klepsydra.
Das Feuer verbreitete einen weichen rötlichen Schein, das Wasser in der großen Bronzeschale dampfte wie immer. Außerdem brannten hier zwei Laternen, deren Licht ihre Kerze überflüssig machte.
Kaum hatte Fidelma den Raum betreten, da sah sie den Körper ausgestreckt auf dem Boden liegen. Daß es sich um eine Frau handelte, die das Gewand einer Schwester dieser Gemeinschaft trug, bedurfte keines näheren Hinsehens. Soviel war auf den ersten Blick klar.
Äbtissin Draigen sagte nichts, sondern blieb einfach an der Seite stehen.
Fidelma setzte ihre Kerze vorsichtig auf einer Bank ab und trat näher. Obwohl sie schon viele Tote gesehen hatte, die durch Gewalt ums Leben gekommen waren, konnte sie nicht verhindern, daß sie vor Abscheu am ganzen Leib zitterte.
Der Kopf des Leichnams war abgetrennt. Er war nirgends zu sehen.
Die Tote hätte mit dem Gesicht nach unten gelegen, hätte sie noch ein Gesicht gehabt. Die Arme waren zur Seite gestreckt. Fidelma bemerkte sofort, daß die rechte Hand ein kleines Kruzifix umklammerte und um den linken Arm ein kurzer Stab aus Espenholz mit Schriftzeichen in Ogham gebunden war. Um den durchtrennten Hals herum war alles blutverschmiert. Das Blut war noch frisch, rot und klebrig. Eine zweite Blutlache sickerte unter der Brust der Toten hervor.
Fidelma atmete tief ein und langsam wieder aus.
»Wer ist das?« fragte sie die Äbtissin.
»Schwester Síomha.«
Fidelma blinzelte
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