04 - Herzenspoker
dem Protokoll, die
Miß Jones.«
»Sie
lassen mich in der Halle stehen«, sagte Rainbird, »und dann führt sie mich in
den Raum, den sie für richtig hält.«
»Danke«,
sagte der trübselige Butler. »Haben Sie eine Karte?«
Rainbird
überreichte ihm eine. »Bringen Sie sie mir wieder«, sagte er. »Es ist die
einzige, die ich habe.«
Als der
Butler die Treppe hinaufgegangen war, stand er in der Halle und schaute sich
um. Alles wirkte sehr reich, sehr gepflegt und sehr düster. Von oben ertönten
Kinderstimmen. Sie sangen einen Choral. Rainbird wünschte plötzlich, nicht
hierhergekommen zu sein. Das Haus vermittelte ihm eine Atmosphäre von
Eingesperrtsein. Rainbird dachte an Lord Guys Abendeinladung. »Von der Hölle in
den Himmel«, sagte er vor sich hin, »und ich fühle mich an keinem der beiden
Orte wohl.«
Auf der
Treppe war ein leichter Schritt zu hören, und Rainbird blickte auf.
Er
hatte das Gefühl, noch nie ein so wundervolles Wesen gesehen zu haben. Sie war
sehr groß und vollbusig. Ihre Haare waren unter eine wenig schmeichelhafte
Haube gestopft, aber das tat der Vollkommenheit ihrer Figur, der Zartheit ihrer
Haut und der sonderbaren Schönheit ihrer großen Augen keinen Abbruch.
Er
hielt sie für eine Nichte von Miß Jones, aber sie kam mit einem Lächeln auf ihn
zu und sagte: »Ich bin Miß Jones. Und Sie sind, nehme ich an, Rainbird. Folgen
Sie mir.«
Sie
ging vor ihm her in einen Salon im Erdgeschoß, der sehr dunkel war und in dem
große düstere Möbel herumstanden wie entrüstete Angehörige des geistlichen
Standes.
»Setzen
Sie sich«, sagte Esther.
Rainbird
setzte sich auf einen harten, zu fest gepolsterten Stuhl, und Esther nahm ihm gegenüber
Platz. Sie betrachtete ihn ernst.
»Ich muss
zuerst einmal sagen, dass ich mir nicht sicher war, ob ich Ihnen gestatten
sollte, mich zu besuchen«, sagte sie. »Wie Sie sicherlich erfahren haben, war
ich von der Erziehung und dem adretten Aussehen Ihres Küchenmädchens sehr
beeindruckt. Aber«, fuhr sie fort, und eine leichte Röte stieg ihr in die
Wangen,
»ich
bin gestern am frühen Morgen zufällig an der Clarges Street Nr. 67 vorbeigekommen.
Dort fand eine wahre Orgie statt.«
»Es
handelte sich um ein Fest, das unser neuer Mieter, Lord Guy Carlton,
veranstaltet hat«, sagte Rainbird. »Die Sitten der Herren sind nicht unbedingt
die der Diener, vor allem wenn es sich um ein Haus handelt, das nur jeweils für
die Saison vermietet wird.«
»Ich
bin froh, das zu hören«, sagte Esther streng. »Dieser Lord Guy muss ein
abscheulicher und ausschweifender Wüstling sein.«
»Er ist
lange im Krieg gewesen«, sagte Rainbird vorsichtig. »Ich bin der Ansicht, dass
es mir nicht zukommt, über meinen Herrn zu sprechen, aber ich möchte trotzdem
darauf hinweisen, dass ich nicht glaube, dass es noch einmal zu solchen
Vorfällen kommt, wie Sie sie beobachtet haben. Seine Lordschaft war so anständig,
zu versprechen, dass er sich in Zukunft anderswo amüsieren wird.«
»Das
offenbart immerhin ein gewisses Schuldbewusstsein«, meinte Esther. »Nun, was
mich interessiert, ist der Umstand, dass Sie die Dienerschaft unterrichten. Ich
gebe meinen Dienern ebenfalls täglich Stunden, aber sie sind langsam im Lernen,
und sie, haben ganz bestimmt keine Lust dazu. Stoßen Sie auf dieselben
Schwierigkeiten?«
»Nein,
Madam. Es hat sich alles ganz von selbst ergeben. Eine frühere Mieterin machte
sich die Mühe, Lizzie zu unterrichten. Wir anderen wurden vom Bildungsfieber
angesteckt und beschlossen, die Wintermonate mit Lernen zu verbringen. Unser
Koch, Angus MacGregor, ist Schotte, und er ist eigentlich derjenige, der den
Unterricht gibt. Sehen Sie, Madam, wenn einer von ihnen keine Lust gehabt hätte
zu lernen, so hätte er es nur zu sagen brauchen. Es stellte sich heraus, dass
Angus ein guter Lehrer ist. Er sagte, wenn man den Leuten dabei helfe,
spannende Geschichten zu lesen, dann führe die Freude am Lesen auch zu höheren
Dingen. Zu diesem Zweck kaufte er für die Damen Liebesromane und für die Männer
Sportmagazine.«
»Liebesromane?«
rief Esther schockiert aus.
»Sie
sind durchaus moralisch«, sagte Rainbird ernst, »und sehr unterhaltend. Der
Schurke bezahlt immer für seine Verbrechen, und die Heldin ist immer rein und
unschuldig. Es ist eine vergnügliche Art, jemandem. Anstand und Sitten
beizubringen - so ähnlich, wie wenn man Kindern eine angenehm schmeckende
Arznei gibt.«
»Das
ist faszinierend«, sagte Esther, und ihre schönen Augen
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