04 - Herzenspoker
her, bis er schließlich stehenblieb und sie in die Arme
zog. Er hielt sie an sich gepresst, während er lauschte, ob sie verfolgt
wurden.
Um sie
herum lagen die Straßen, verborgen in den giftigen Schwaden des Londoner
Nebels, leer und verlassen da.
»Bringen
Sie mich nach Hause«, flüsterte Esther zitternd. »Ich möchte nach Hause.«
»Dann
küssen Sie mich.«
»Nein.«
»Ich
behalte Sie bis morgen hier. Küssen Sie mich.«
»So
etwas tut eine Dame nicht«, sagte Esther mit erstickter Stimme. »Oh, also gut.«
Sie
konnte sein Gesicht nicht sehen, und ihr Kuss landete auf seiner Wange. Er
hielt sie fest, und sein suchender Mund fand ihre Lippen. Er kümmerte sich
nicht darum, dass sie seinen Kuss nicht erwiderte. Er liebkoste ihren Mund
zunächst sanft und dann leidenschaftlicher, bis er fühlte, dass sie nachgab.
Esther dachte zuerst, es läge daran, dass sie betrunken war. Ihre Knie wurden
weich und ihre Arme kraftlos. Sie konnte sich nicht gegen ihn behaupten. Der
viele Punsch, die ausgestandene Angst und der ungewöhnliche Abend hatten ihren
Widerstand gebrochen. Wenn seine Hände ihren Körper abgetastet hätten, wenn er
versucht hätte, intimer zu werden, dann wäre sie erschrocken und hätte ihn
weggestoßen. Aber Lord Guy spürte, dass es im Augenblick genug war, sie zu
küssen. Sobald er es dank seiner Erfahrung, die er mit echter Zärtlichkeit
paarte, geschafft hatte dass sie seine Küsse erwiderte, begnügte er sich mit
dem Lustgefühl, die Frau, die er liebte, einfach nur zu küssen, zu Spuren, wie
sich ihr Körper mit Leben erfüllte.
Er
sagte kein Wort, weil er fürchtete, dass der Zauber zerbrach, wenn er von Liebe
sprach oder verlangte, dass sie etwas Liebevolles sagte. Wenn Miß Esther Jones
mit stummen und zuweilen wilden Küssen mitten auf der Straße in einer nebligen
unbekannten Londoner Gegend zufrieden war, dann sollte sie haben, was sie
wollte.
Der
heisere Ruf der Wache, der von weit her kam, brachte sie in die Wirklichkeit
zurück.
»Ich
wäre mir nie sicher«, sagte Esther mit leiser, zittriger Stimme, »dass Sie mir
treu sind.«
»Jeder
Mensch macht irgendwann in seinem Leben einmal Dummheiten«, sagte er. »Es wäre
gut, wenn du auch einmal etwas falsch gemacht hättest, Esther, dann wärest du
froh, wenn du in meinen unwürdigen Armen eine Zuflucht fändest. Wage es.
Heirate mich. Bestimmt weiß die ehrbare Miß Jones, dass sie einen Mann nicht
mitten auf der Straße küssen kann ohne den Willen, ihn zu heiraten. Ich könnte
es weitererzählen und sie als liederliche Person hinstellen.«
»Aber
das werden Sie nicht tun.«
»Ah,
wenn ich so anständig bin, dann bin ich auch anständig genug für dich. Bei
allem, was heilig ist, ich höre eine Kutsche.«
Das
Trappeln von Pferdehufen kam näher.
»He!«
rief Lord Guy. »Hallo, Kutscher!«
Eine
Kutsche ragte drohend vor ihnen auf, eine schwärzere Masse als der Nebel.
»Ich
habe mich verirrt«, kam eine klägliche Stimme vom Kutschbock. »Strothers ist
mein Name. Sie klingen wie ein Gentleman.«
»George
Strothers!« rief Lord Guy. »Ich bin es, Carlton.«
Lord
Guy wandte sich an Esther. »Einer meiner Zechkumpane«, erklärte er. Er sprach
wieder in Richtung Kutsche: »Strothers, nimm uns auf und bring uns in eine
zivilisierte Gegend.«
»Ich
kann nicht«, sagte Mr. Strothers. »Du kannst es ja versuchen, Carlton, wenn du
willst, aber ich habe meine armen Tiere schon stundenlang auf der Suche nach
dem Heimweg in die Irre geführt.«
Mr.
Strothers rutschte zur Seite, und Lord Guy half Esther auf den Kutschbock, wo
sie zwischen den Männern Platz nahm. Lord Guy ergriff die Zügel, und sie
machten sich in den Nebel auf.
Jedes
Mal, wenn sie einen Fackelträger sahen, hielten sie an und erkundigten sich, wo
sie waren, und so gelang es Lord Guy und Esther schließlich, die Kutsche in die
Broad Street zu lenken, die Broad Street entlang zur High Street und von da aus
in die Oxford Street, die Bond Street hinunter, um die Ecke in den Hay Hill und
von da aus zum Berkeley Square. Esther und Lord Guy bedankten sich bei Mr.
Strothers und schickten ihn die Hill Street hinab nach Hause. Esther fand es
seltsam, dass sie nicht einmal wußte, wie Mr. Strothers aussah.
Zu
ihrem Leidwesen folgte ihr Lord Guy ins Haus. Die Ereignisse dieses Abends
waren zuviel für sie gewesen. Die Wirkung des Punsches ließ jetzt nach, und sie
fand ihr Verhalten immer schockierender. Miß Fipps erschien im Morgenrock mit
der größten Nachthaube auf
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