04 Im Bann der Nacht
15
A nna wusste sofort, dass sie Teil eines Traumes war, der in Wirklichkeit gar keiner war.
Zum Beispiel konnte sie sich nicht daran erinnern, irgendwann eingeschlafen zu sein. In der einen Minute hatte sie noch aufmerksam Wache gehalten, und in der nächsten stürzte sie bereits durch eine schwarze Leere, die sie zu verschlingen schien. Außerdem wirkte alles viel zu real und lebendig für einen normalen, durchschnittlichen Albtraum.
Anna sah an sich herunter, um sich zu vergewissern, dass auch in dieser Zwischenwelt Kleidung vorhanden war, und seufzte erleichtert, als sie feststellte, dass sie ein langes grünes Kleid und einen bestickten Umhang trug, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Sie sah aus, als sei sie einem mittelalterlichen Gemälde entstiegen, war aber gerade viel zu froh, nicht splitterfasernackt zu sein, um sich darüber Gedanken zu machen. Und ihr albernes Gewand schien durchaus an diesen merkwürdigen Ort zu passen.
Mit einem Schauder nahm sie die verfallende Ruine eines alten Schlosses wahr, die sie umgab. Es war nicht mehr als brüchiges Mauerwerk aus abgeschliffenen grauen Steinen vorhanden, das mit Moos bedeckt war. Durch die leeren Fensterhöhlen war zu sehen, dass das Schloss auf
dem Rand einer Klippe thronte. Weit darunter brandete schäumend das Meer gegen das steinige Ufer.
Langsam drehte Anna sich um und suchte den seltsamen, silbrigen Nebel nach der vertrauten Gestalt von Morgana ab.
Eine ganze Weile war nichts zu sehen. Sie schien völlig allein in der abgelegenen, friedlichen Ruine zu sein. Und fast noch besser war, dass nicht der kleinste Granatapfelhauch die salzige, frische Brise trübte. Erst als ein großer, schwarzsilberner Wolf in einem Türbogen auftauchte und sie mit einem verblüffend intelligenten Blick aus grünen Augen ansah, bekam sie es mit der Angst zu tun. Hastig wich sie zurück, die Hand auf ihr Herz gepresst.
Der Wolf blieb stehen, als ob er bemerkte, dass er sie erschreckt hatte - was deutlich beruhigender gewesen wäre, wenn nicht ein eigenartiges Glühen begonnen hätte, um das große Tier herum zu schimmern - und nahm blitzschnell die nebelhafte, ätherische Gestalt eines Mannes an.
»Habe keine Angst, du hast von mir nichts zu befürchten«, grollte eine tiefe Stimme aus dem Inneren des Nebels.
Anna konzentrierte sich. Trotz der undeutlichen Silhouette einer großen, männlichen Gestalt in schwerer Rüstung war es unmöglich, Gesichtszüge auszumachen. Fast so, als ob der Nebel dagegen ankämpfte, eine feste Form aufrechtzuerhalten.
»Das höre ich in letzter Zeit ziemlich häufig«, murmelte sie. »Und üblicherweise unmittelbar, bevor jemand versucht, mir etwas anzutun.«
Der Nebel bewegte sich, und Anna hatte den Eindruck, dass der Fremde nun dabei war, seinen Helm abzunehmen. Es war nicht mehr als ein Gefühl. Genau wie das Gefühl,
dass der Mann ein markantes, müdes Gesicht und eine lange Mähne aus schwarzen Haaren hatte, durch die sich erstes Grau zog.
»Ich spürte, dass Morgana Avalon verlassen hat und nun durch die Welt zieht«, sagte er, ohne auf ihren Kommentar einzugehen. »Daher bin ich hier.«
Anna schluckte. »Sie kennen Morgana?«
Sein kurzes, bitteres Lachen hallte durch den leeren Schlosshof. »Und ob.«
»Dann war die Behauptung, dass Sie mir nichts tun wollten, bloß eine große Lüge?«
»Nein, Anna Randal.« Er hob die Hand in einer Geste des Friedens, wie sie annahm. »Ich bin hier, um dir den wenigen Schutz anzubieten, den ich dir bieten kann.«
»Warum?«, fragte sie misstrauisch. »Warum sollten Sie mich beschützen wollen?«
»Du bist Blut von meinem Blute.«
Eine seltsame Woge der Erregung überwältigte sie, wurde aber schnell wieder unterdrückt. Sie wollte sich nicht zu früh freuen, und doch schlug ihr Herz bis zum Hals, als sie an ihre Familie dachte, die sie vor so langer Zeit verloren hatte. »Sie meinen, wir sind verwandt?«, hakte sie nach, wobei sie ihren Tonfall möglichst gleichgültig klingen ließ.
»Wir sind mehr als bloße Verwandte.« Der Nebel waberte wie als Reaktion auf eine starke Emotion. »Du bist die Krönung aus Jahrhunderten der Hoffnung und der Opfer. Du bist die stärkste Waffe der Gerechtigkeit.«
»Wie bitte?« Sie erzitterte, als sich bei den ominösen Worten ganz plötzlich ein Kältegefühl in ihrem Magen bildete. »Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz.«
»Morgana muss für ihre Sünden bezahlen.«
»Sünden gegen Sie?«
»Ich bin nur eines ihrer Opfer, genau wie
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