04 - Mein ist die Rache
hohe Ehre dir mit deiner Inthronisation - ein anderes Wort gibt es wirklich nicht - in Urgroßmutter Ashertons Schlafzimmer zuteil geworden ist? Wenn ich daran denke, wie bei meinen früheren Besuchen immer alle ehrfürchtig auf Zehenspitzen daran vorbeigeschlichen sind! Ich dachte immer, es sei für die Königin persönlich reserviert, falls die mal auf eine Stippvisite vorbeikommen sollte.«
»Das ist das Zimmer mit dem Gruselbett«, warf Sidney ein.
»Vorhänge und aller möglicher Klimbim. Und scheußliche Schnitzereien am Kopfteil, ein einziger Alptraum. Das kann nur eine Liebesprobe sein, Deb, ob du auch standhaft bist.«
»So ähnlich wie bei der Prinzessin auf der Erbse«, sagte Helen. »Mußtest du je in dem Zimmer schlafen, Daze?«
»Urgroßmutter lebte noch, als ich zum ersten Mal zu einem Besuch hier war. Anstatt in diesem Bett zu schlafen, mußte man mehrere Stunden lang geduldig daneben sitzen und aus der Bibel vorlesen. Sie hatte eine besondere Vorliebe für die martialischen Passagen des Alten Testaments, soweit ich mich erinnere. Ausgedehnte Forschungsreisen nach Sodom und Gomorrah. Lose Sitten, Fleischeslust und Hurerei. Wie Gott die Sünder bestrafte, interessierte sie weniger. ›Überlaß die mal unserem Herrgott‹, sagte sie immer und winkte ab. ›Komm, Kind, mach weiter.‹«
»Und hast du weitergemacht?« fragte Sidney.
»Aber natürlich. Ich war ja erst sechzehn. Ich glaube, ich hatte vorher noch nie etwas so herrlich Verworfenes gelesen.« Sie lachte. »Meiner Ansicht nach ist die Bibel zu einem großen Teil verantwortlich für das sündhafte Leben ...« Sie senkte plötzlich den Blick und zupfte an ihrer Serviette. Ihr Lächeln erlosch, erschien aber gleich wieder, und sie sah mit entschlossener Miene auf. »Erinnerst du dich an deine Urgroßmutter, Tommy?«
Lynley starrte in sein Weinglas und bemerkte sein Unvermögen, die Farbe einer Flüssigkeit zu definieren, die irgendwo zwischen Grün und Bernsteingelb lag. Er schwieg.
Deborah berührte seine Hand, flüchtig nur, wie ein Hauch. »Als ich das Bett sah, hab' ich mir überlegt, ob es sehr pietätlos wäre, auf dem Boden zu schlafen«, sagte sie.
»Ja, man erwartet irgendwie, daß die ganze Angelegenheit bei Einbruch der Dunkelheit zu finsterem Leben erwacht, nicht?« meinte Helen. »Aber ich möchte trotzdem mal da schlafen. Warum durfte ich noch nie eine Nacht in diesem Gruselbett verbringen?«
»So schlimm war's gar nicht, wenn man nicht allein darin schlafen müßte.« Sidney warf Justin Brooke mit hochgezogener Augenbraue einen Blick zu. »Man brauchte nur einen zweiten Körper zum Warmhalten. Einen warmen Körper natürlich. Und vorzugsweise einen lebendigen. Falls Urgroßmutter Asherton die Gewohnheit hat, nachts durch die Gänge zu geistern, wär's mir lieber, sie käme nicht vorbei, um mich warmzuhalten. Aber ihr anderen braucht nur zweimal zu klopfen.«
»Wobei einige willkommener sind als andere, hoffe ich«, bemerkte Justin Brooke.
»Nur wenn sie sich zu benehmen wissen«, antwortete Sidney.
St. James blickte von seiner Schwester zu ihrem Liebhaber, ohne etwas zu sagen. Er nahm sich ein Brötchen und brach es sauber in zwei Hälften.
»Das kommt davon, wenn man beim Mittagessen über das Alte Testament redet«, sagte Helen. »Kaum erwähnt man die Genesis, schon verfallen wir alle in Sittenlosigkeit.«
Allgemeines Gelächter überbrückte den peinlichen Moment.
Lynley sah ihnen nach, als sie in verschiedene Richtungen auseinandergingen. Sidney und Deborah schlenderten zum Haus. Sidney, die gehört hatte, daß Deborah ihre Fotoausrüstung mitgebracht hatte, hatte schon bei Tisch angekündigt, sie wolle sich irgend etwas Verführerisches anziehen, um Deborah zu neuen fotografischen Höchstleistungen zu inspirieren. St. James und Helen gingen zum Tor, hinter dem der Park wartete. Daze Asherton und Cotter steuerten gemeinsam auf die Nordostseite des Hauses zu, wo im Schutz alter Buchen und Linden die kleine Kapelle stand, in der Lynleys Vater und die anderen Ashertons begraben lagen. Und Justin Brooke murmelte etwas davon, daß er sich einen schattigen Baum suchen wolle, um ein Mittagsschläfchen zu halten.
Augenblicke später war Lynley allein. Ein frisches Lüftchen erfaßte das Tischtuch. Er hielt es fest, schob einen Teller zur Seite und betrachtete die Überreste der Mahlzeit.
Er mußte mit John Penellin sprechen. Das erwartete der Verwalter nach so langer Abwesenheit von ihm. Zweifellos wartete er schon
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