04 - Mein ist die Rache
enthalten gewesen, nur die tiefe Scham des Gedemütigten, und das war viel schlimmer gewesen.
Sie hatte ihn angeschrien. Keinen Menschen kümmert das. Es hat nie jemanden gekümmert außer dir!
Sie hatte nur die Wahrheit gesprochen, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß er selbst sich nicht verzeihen konnte.
»Was soll es denn sein?« fragte er jetzt. »Ein Darts-Turnier im Anchor and Rose?«
»Nein, viel besser. Eine ganz bestimmt grauenvolle Vorstellung von Viel Lärm um nichts, dargeboten von der örtlichen Laienspielgruppe auf dem Gelände der Grundschule. Es ist sogar eine Sondervorstellung zur Feier von Tommys Verlobung. Das sagte jedenfalls laut Daze der Pfarrer, als er heute mit Freikarten seine Aufwartung machte.«
»Ist das nicht dieselbe Gruppe -«
»Die vor zwei Jahren Bunbury inszenierte? Du sagst es, mein Bester. Eben dieselbe.«
»Allmächtiger. Wie soll diese Neuinszenierung je an Nanrunnels kühne Huldigung Oscar Wildes herankommen? Pastor Sweeney als eloquenter Algernon, dem die Gurkenbrötchen am Gaumen kleben.«
»Warte nur, bis du Mr. Sweeney als Benedick erlebst.«
»Du hast recht. Nur ein Banause würde sich das entgehen lassen.« St. James griff nach seinen Krücken, um aufzustehen.
Als er seinen Morgenrock geradezog, bückte sich Helen hastig nach drei Rosenblättern, die von einem Strauß auf einem Tischchen neben dem Fenster zu Boden gefallen waren. Sie lagen wie kleine Stücke feinsten Samts auf ihrer Hand. Sie sah sich nach einem Papierkorb um, froh, etwas zu tun zu haben, da sie wußte, wie peinlich es St. James war, sein krankes Bein sehen zu lassen.
»Hat einer von euch Tommy gesehen?«
Helen wußte, was die Frage zu bedeuten hatte. »Er weiß nicht, was passiert ist. Wir haben es geschafft, ihm aus dem Weg zu gehen.«
»Deborah auch?«
»Sie war die ganze Zeit bei Sidney. Sie hat ihr ein Bad eingelassen und dafür gesorgt, daß sie sich hinlegte und ihr dann Tee gebracht.« Sie lachte ohne Bitterkeit. »Der Tee war mein höchst kreativer Beitrag. Ich habe keine Ahnung, was er eigentlich bewirken sollte.«
»Und Brooke?«
»Dürfen wir hoffen, daß er sich nach London verziehen wird?«
»Das bezweifle ich. Du nicht?«
»Doch, leider. Ja.«
St. James stand neben dem Bett. Helen wußte, sie hätte hinausgehen sollen, damit er sich ungestört ankleiden konnte, aber etwas an seinem Verhalten - eine Kontrolliertheit bis ins kleinste, die zu brüchig war, um glaubhaft zu sein - trieb sie zu bleiben.
Sie kannte St. James gut, besser als sie je einen anderen Mann gekannt hatte. Sie hatte im Lauf der vergangenen zehn Jahre seine bedingungslose Hingabe an seine Arbeit kennengelernt, seine Entschlossenheit, sich in der forensischen Wissenschaft den Ruf einer Kapazität aufzubauen. Sie hatte sich ausgesöhnt mit seiner unerbittlichen Art der Introspektion, seinem Streben nach Perfektion, seiner Neigung zu Selbstbestrafung, wenn er einem gesetzten Ziel nicht gerecht werden konnte. Über all das sprachen sie offen miteinander - beim Essen, in seinem Arbeitszimmer, während der Regen an die Fenster trommelte, auf dem Weg zum Old Bailey, im Labor. Aber niemals sprachen sie über sein Gebrechen. Das war ein Thema, das an Bereiche seiner Seele rührte, zu denen er niemandem Zutritt gewährte. Bis heute nachmittag. Aber da, als er ihr endlich die Gelegenheit geboten hatte, auf die sie so lange gewartet hatte, hatte sie keine angemessenen Worte gefunden.
Was konnte sie ihm jetzt sagen? Sie wußte es nicht. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie ihre Beziehung sich entwickelt hätte, wenn sie nicht vor acht Jahren brav aus seinem Krankenzimmer hinausgegangen wäre, nur weil er sie darum gebeten hatte. Und weil es soviel leichter gewesen war, ihm zu gehorchen, als das Unbekannte zu riskieren.
Sie konnte ihn jetzt nicht allein lassen, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, ihm ein Wort zu sagen, das ihn - wenn auch in noch so geringem Maß - sich selbst zurückgab.
»Simon.«
»Meine Tabletten liegen auf der Ablage über dem Waschbecken, Helen«, sagte St. James. »Würdest du mir zwei holen?«
»Tabletten?« fragte Helen erschrocken. Sie glaubte nicht, seine Gründe für den Rückzug in sein Zimmer falsch interpretiert zu haben. Er hatte ihr nicht den Eindruck gemacht, als hätte er Schmerzen, obwohl Cotter davon gesprochen hatte, »Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Über dem Waschbecken.«
Er lächelte, ein flüchtiger Schimmer, der über sein Gesicht flog und gleich
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