04 - Mein ist die Rache
Tür, daß sie, hätte sie ihn nicht selbst zwei Stunden vorher in sein Zimmer begleitet, geschworen hätte, es sei leer. Aber sie wußte, daß er sich mit Isolation bestrafte.
Er hat genug Zeit gehabt, sich niederzumachen, dachte sie. Jetzt muß man ihn da herausholen.
Sie hob die Hand, um zu klopfen, aber im selben Moment öffnete Cotter die Tür von innen und trat in den Korridor hinaus. Er warf einen kurzen Blick zurück - Helen konnte sehen, daß die Vorhänge zugezogen waren - und schloß die Tür hinter sich. Dann verschränkte er die Arme auf der Brust.
Hätte Helen eine Vorliebe für mythologische Bilder gehabt, sie hätte ihn mit Cerberus verglichen. Da ihr solche Neigungen jedoch fehlten, spannte sie nur energisch die Schultern an und schwor sich, daß St. James ihr nicht entkommen würde, auch wenn er Cotter als Wachposten vor seine Tür stellte.
»Er ist doch wieder auf, nicht?« fragte sie scheinbar unbefangen, obwohl das verdunkelte Zimmer ihr gezeigt hatte, daß St. James keineswegs auf war und auch nicht die Absicht hatte, in nächster Zeit aufzustehen. »Tommy hat für heute abend einen Ausflug nach Nanrunnel geplant. Den wird Simon sicher nicht verpassen wollen.«
Cotter verschränkte die Arme fester. »Er hat mich gebeten, ihn zu entschuldigen. Er hat heute nachmittag etwas Schmerzen. Die Kopfschmerzen, Sie wissen ja.«
»Nein!«
Cotter zwinkerte verwirrt. Helen nahm ihn beim Arm und zog ihn von der Tür weg auf die andere Seite des Korridors zu einer Reihe Fenster, die zum Küchenhof hinunterblickten.
»Cotter, bitte. Lassen Sie ihn das nicht tun.«
»Lady Helen, wir müssen doch ...« Cotter hielt inne. Er sprach so geduldig, daß sie wußte, er wollte sie mit Vernunftgründen überzeugen. Aber das war nicht in ihrem Sinn.
»Sie wissen, was geschehen ist, nicht wahr?«
Cotter wich einer Antwort aus, indem er ein Taschentuch herauszog, sich umständlich schneuzte und dann den Springbrunnen unten im Hof betrachtete.
»Cotter!« insistierte Helen. »Sie wissen doch, was geschehen ist?«
»Ja. Von Deb.«
»Dann wissen Sie auch, daß man ihn keinesfalls noch länger allein da drinnen grübeln lassen kann.«
»Aber er hat mir extra Anweisung gegeben -«
»Ach, zum Teufel mit seinen Anweisungen. Tausendmal haben Sie sie schon ignoriert und genau das getan, was Sie für richtig hielten. Und Sie wissen, daß es das richtige ist, ihn jetzt da rauszuholen.« Helen hielt inne, um sich eine Strategie zu überlegen, die er akzeptieren würde. »Also. Sie werden im Salon erwartet. Alle treffen sich dort zum Sherry. Sie haben mich den ganzen Nachmittag nicht gesehen, und Sie waren leider nicht hier, um mich aufhalten zu können, als ich einfach in sein Zimmer spazierte und mich auf meine eigene Art um ihn kümmerte. In Ordnung?«
Cotter zeigte nicht einmal die Spur eines Lächelns, aber er nickte. »In Ordnung.«
Helen sah ihm nach, bis er am Ende des Korridors zum Hauptteil des Hauses verschwand, ehe sie zur Tür zurückging und eintrat. Sie konnte St. James' Gestalt im Bett sehen. Er bewegte sich leicht, als sie die Tür schloß, daher wußte sie, daß er nicht schlief.
»Simon, Darling«, sagte sie heiter, »heute abend erwartet uns in Nanrunnel eine kleine Abwechslung für Kulturbeflissene. Wir müssen uns vorher auf jeden Fall mit sieben oder acht steifen Sherrys stärken - gibt's überhaupt einen steifen Sherry? -, wenn wir das überleben wollen. Ich vermute, Tommy und Deborah sind uns mit dem Trinken schon weit voraus. Wir müssen uns beeilen, wenn wir aufholen wollen. Also, was ziehst du an?«
Sie ging durch das Zimmer, während sie sprach, trat zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Sie drapierte sie ordentlich, mehr um Zeit zu gewinnen als aus Schönheitssinn, und als kein Grund mehr bestand, sich an ihnen zu schaffen zu machen, drehte sie sich zum Bett und sah, daß St. James sie erheitert beobachtete.
»Du bist so unglaublich subtil, Helen«, sagte er ironisch.
Sie atmete auf. Aber um Selbstmitleid war es ja im Grunde nicht gegangen. Schon eher um Selbsthaß. Doch vielleicht war selbst der in jenen Minuten verflogen, als sie allein oben auf den Felsen gestanden hatten, während Deborah Sidney ins Haus gebracht hatte.
Hätte Brooke sie getötet oder nur vergewaltigt, hatte St. James gefragt, während ich von hier oben zusah wie ein nichtsnutziger Voyeur? Aus sicherer Distanz. Ohne das geringste Risiko. Hört sich an wie mein ganzes Leben.
Kein Zorn war in seinen Worten
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